»Der Flug der Stare«: Gedanken jenseits der Physik
»Ich weiß, ich bin vom Thema abgeschweift, aber manchmal weiß man zwar, von wo man aus startet, nicht aber, wohin man gelangt.« Mit diesem Satz endet das fünfte Kapitel des Büchleins des römischen Physikers Giorgio Parisi, der 2021 mit dem Nobelpreis für Physik ausgezeichnet wurde. Er beschreibt ganz gut, worauf man sich einstellen muss: ein Buch, das Leserinnen und Leser auf einen etwas chaotischen Ritt durch die Welt der komplexen Systeme entführt. Einen übergeordneten, gedanklichen Faden gibt es nicht. Trotzdem ist das Buch absolut lesenswert, denn es bringt den Physiker und Menschen Parisi näher, der frei von der Seele weg schreibt.
Eine Chance vertan – die nächste ergriffen
Von den acht Kapiteln behandeln drei physikalische Themen: wie sich ein Starenschwarm als komplexes System beschreiben lässt, was Phasenübergänge sind, und schließlich das Thema, wofür der Autor den Nobelpreis erhalten hat: die Spingläser. Die übrigen fünf Kapitel widmen sich der Physik in Rom vor 50 Jahren, der Rolle von Metaphern in Physik und Biologie, dem Ideenfindungsprozess, dem Sinn von Wissenschaft sowie Parisis größter persönlicher Eselei.
Letztere ist im Rückblick eine Anekdote: Er arbeitete 1973, also lange vor seiner Forschung an den Spingläsern, vielleicht etwas halbherzig an Yang-Mills-Feldtheorien. Dabei übersah er eine im Nachhinein offensichtliche Idee – ein kleiner Schritt –, mit dem er die Quantenchromodynamik (die Quantenfeldtheorie der starken Kernkraft) hätte entdecken können. Die richtige Idee hätte ihm bereits 2004 den Nobelpreis eingebracht. So hat er 17 Jahre länger warten müssen.
Natürlich kann Parisi sein Nobel-Thema sehr schön einführen und erklären, und er geht insbesondere auch darauf ein, was das Besondere an Spingläsern ist: dass ein komplexes System nicht nur in einem energetischen Minimum sein kann, sondern gleichzeitig in sehr vielen verschiedenen. Das ist in etwa so, als ob viele Temperaturen gleichzeitig vorliegen können, so dass es wenig Sinn macht, von »einer« Temperatur zu sprechen.
Doch der theoretische Physiker hat auch keine Angst vor experimenteller Arbeit. Für die Untersuchung der Starenschwärme hat er mit seinem Team schnelle stereoskopische Kameras und eine ausgeklügelte Software entwickelt, um die einzelnen Vögel in den Bildern zu identifizieren. Es zeigte sich, dass sich die Schwarmdynamik am besten erklären lässt, wenn man annimmt, dass ein Star sich immer nach seinem nächsten Nachbarn richtet – unabhängig davon, wie weit der entfernt ist.
In einem der fünf Kapitel, die nicht direkt mit einem Forschungsthema in Zusammenhang stehen, diskutiert Parisi die Rolle von Metaphern und Analogien – und warnt vor allem davor, sich von einem gut klingenden Vergleich einlullen zu lassen. Denn ein Vergleich trifft nur dann zu (und ist damit gedanklich Gewinn bringend), wenn die beiden Systeme sich in den Grundannahmen nicht unterscheiden. Ein einfaches Beispiel, das er anführt, ist die Nennung der DNA einer bestimmten Gruppe, etwa einer Nation. Der Vergleich eines sozialen Systems mit einem Organismus ist schlichtweg unzutreffend, und doch werden derartige Phrasen rhetorisch häufig ausgeschlachtet.
Dass Parisi sich über solche Metathemen Gedanken macht, dürfte auch der Breite der physikalischen Themen geschuldet sein, an denen er gearbeitet hat. Für seine eigene wissenschaftliche Laufbahn gilt wohl das Eingangszitat auch: Man weiß nicht immer, wo man landet. Bezogen hat er das Zitat aber eindeutig auf das fünfte Kapitel, dessen Argumentation am Ende ganz anders verläuft, als er ursprünglich anvisiert hatte.
Gönnen Sie sich ruhig Parisis Potpourri, Sie werden für einen Nachmittag gut unterhalten.
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