»Der Fluss der Götter«: Warum die erste Expedition zu den Nilquellen scheiterte
Hunderte Kilometer schleppten sich die Männer zu Fuß durch widriges Gelände, durch Sumpf, Sand, Urwald und Dornengestrüpp. Sie ertrugen unsägliche Entbehrungen, wurden von heftigem Fieber geschüttelt, verloren zeitweise ihr Augenlicht, lagen tagelang gelähmt darnieder. Die Expedition, die sich fast zwei Jahre lang den Weg durch Ostafrika bahnte – vor allem durch das heutige Tansania – sollte eines der größten Rätsel des 19. Jahrhunderts lösen: Wo befindet sich die Quelle des Nils? Wo entspringt dieser majestätische Strom, der Ägypten durchzieht und sich ins Mittelmeer ergießt? Es war eine Reise ins Ungewisse, denn die damaligen Gelehrten hatten noch keine gesicherte Vorstellung vom Ursprung des Flusses.
Zwei Männer machten sich im Auftrag der Royal Geographical Society in London auf den Weg: Es waren die britischen Offiziere Richard Francis Burton und John Hanning Speke. Gemeinsam mit dutzenden Trägern, Wächtern und Wegführern zogen sie zwischen 1857 und 1859 von Sansibar aus zum Tanganjikasee sowie zum Nyanza, dem späteren Victoriasee. Die Forschungsreise zehrte die Entdecker aus, doch ihre größten Widersacher waren weder Wetter noch Wunden, sondern Burton und Speke selbst. Der eine, Burton, von wissenschaftlicher Neugier geleitet und zahlreicher Sprachen mächtig, besaß kein Gespür für die Folgen seines teils provokanten und kühlen Gebarens. Und so bemerkte er auch nicht, wie er Missgunst und Groll auf sich zog. Und der andere? Speke war ein stolzer englischer Aristokrat mit einem ausgeprägten Faible für die Großwildjagd – und nur wenig Sinn für die Menschen und Sitten anderer Länder. Zwei wie Feuer und Eis durchlebten eine strapaziöse Expedition, auf der sie schließlich Neid, Ruhmsucht und Starrsinn entzweiten.
Für dieses historische Sachbuch hat die US-amerikanische Journalistin Candice Millard tief recherchiert. Fünf Jahre Arbeit stecken in den Seiten, inklusive einer Reise nach Ostafrika, um Burton und Spekes Wegen zu folgen. Ebenso besuchte die Autorin Archive in Afrika und Europa, sprach mit zahlreichen Experten sowie Nachfahren ihrer Protagonisten und wertete Dokumente aus. Millard hat die Informationen aus ihren vielen Quellen zu einer stringenten und spannenden Erzählung verflochten. Dabei leuchtet sie auch Hintergründe aus und zeichnet so ein aussagekräftiges Bild einer vom Kolonialismus geprägten Welt. Die Autorin schildert die Lebenswege ihrer Protagonisten, erklärt, was vor den Expeditionen in Ostafrika und was danach geschah, und beschreibt Burtons und Spekes Charaktere. Mit diesem Wissen wird deutlich, wie es zum Konflikt zwischen den beiden Männern kommen konnte.
Das »Juwel der Gruppe« hielt die Expedition am Leben
Die beiden Briten gehörten zu den ersten Europäern, die in diese Region Ostafrikas gelangten. Doch vor ihnen hatten längst andere dieselben Wege beschritten – etwa arabische oder afrikanische Händler –, ganz zu schweigen von den Menschen, die dort seit jeher lebten. Millard lenkt daher den Blick auch auf kaum bekannte Expeditionsteilnehmer wie den Wegführer Sidi Mubarak Bombay, dem maßgeblich der Zusammenhalt der Truppe und der Fortgang der Expedition zu verdanken war. In der Wertschätzung für Bombay waren sich, wenn auch sonst in fast nichts, Burton und Speke einig: Er sei das »Juwel der Gruppe« gewesen, so Burton – fröhlich, ehrlich, unentbehrlich und arbeitsam.
Dass Millard ausführlich das Leben und die Gedankenwelt von Burtons Ehefrau Isabel beschreibt, mag auf den ersten Blick wie die Pflichtzutat eines modernen Sachbuchs erscheinen, in dem auch das Schicksal von Frauen Erwähnung finden soll. Tatsächlich erweist sich ihre Biografie aber als ebenso interessant wie die der beiden männlichen Protagonisten. Die nahezu obsessive Liebe zu ihrem agnostischen Mann stand für sie im Widerspruch zu ihrer tiefen Religiosität. Ihr Zwiespalt offenbart einen Menschen, der in den Zwängen des viktorianischen Zeitalters gefangen war. Isabel Burton stand ihrem Mann Jahrzehnte unerschütterlich zur Seite, selbst dann noch, als er an seiner Verbitterung zu zerbrechen begann.
Die Originalfassung von Millards Sachbuch erschien 2022 auf Englisch. Der Übersetzerin Irmengard Gabler ist eine ausgezeichnete Übertragung ins Deutsche gelungen, einzig die Bildunterschriften in der Buchmitte sind bisweilen unklar verfasst. Das schmälert allerdings nicht, was Millard auf rund 350 Leseseiten ausführt: eine wahre Geschichte, erkenntnisreich und spannend geschildert.
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