»Der Geist aus der Maschine«: Glanz und Elend des Internets
Andrian Kreye ist seit 1982 Journalist, schreibt unter anderem über Computer und das Internet und hat die stürmische Entwicklung dieser Technologie in den letzten 35 Jahren entsprechend intensiv miterlebt. Ich auch. Daher erwartete ich von seinem Buch nichts weiter als eine Nacherzählung bekannter Geschichten.
Weit gefehlt! Zahlreiche Details waren für mich überraschend. Das liegt daran, dass Kreye kaum etwas über die wissenschaftlichen Grundlagen sagt, dafür aber umso mehr über die handelnden Personen und die gesellschaftlichen Auswirkungen ihres Tuns. So müssen sich der Altmeister Marvin Minsky (1927–2016), der in den 1960er Jahren den Begriff »künstliche Intelligenz« propagierte, und sogar Bill Gates, der mit Microsoft zu einem der reichsten Männer der Welt wurde, mit Nebenrollen begnügen. Hauptfiguren sind vielmehr das Internet, Google, Amazon und vor allem die zu gigantischer Größe angewachsenen Netze, die »sozial« genannt werden, aber zunehmend unsoziale Wirkungen zeitigen.
Die Monopole und die Politik
Der raketengleiche Aufstieg weniger Firmen zu Monopolisten, der auf den ersten Blick wirkt wie ein Lehrstück über den Raubtierkapitalismus, hat seine Wurzeln überraschenderweise in staatlichem Handeln. Denn das Internet ist ein Kind des Kalten Krieges: Damals kam es dem amerikanischen Verteidigungsministerium darauf an, eine Kommunikationsstruktur zu schaffen, die keine Zentrale hat und so einem möglichen Ausfall diverser Vermittlungsstellen standhalten würde. Das Hypertext-Protokoll, das dem World Wide Web zugrunde liegt, stammt aus dem – staatlich finanzierten – europäischen Kernforschungszentrum CERN. Und der Telecommunications Act von 1996 stellte die Anbieter von Internetplattformen von jeder Verantwortung für die Inhalte frei, die andere dort einstellten, und schuf damit erst die Voraussetzung dafür, dass alle möglichen finsteren Akteure in sozialen Netzen ungestraft ihr Unwesen treiben konnten.
Eigentlich ist das Internet ein Platz zum freien Austausch von Gedanken, so wie es einst die Salons zur Zeit der Aufklärung waren – nur viel größer und wirkungsvoller. Unterdrückte Gruppen entdeckten das Netz für die Verbreitung ihrer Ideen und lösten damit unter anderem den »Arabischen Frühling« aus. Aus dieser Perspektive könnte man das neue Medium als Vehikel gesellschaftlichen Fortschritts verstehen. Nur steht dasselbe Mittel auch zur Verbreitung von Desinformation, Hass und Hetze zur Verfügung, mit fatalen Folgen. So konnten zwei Neonazis namens David Duke und Don Black ihre Ideologie nicht nur ungehindert verbreiten – das fällt in den USA unter Meinungsfreiheit –, sondern auch die Website »Stormfront« betreiben, die ihrerseits etliche Gesinnungsgenossen zu Mordtaten motiviert hat. Zu ihnen gehört der norwegische Amokläufer Anders Breivik, der am 22. Juli 2011 auf der Insel Utøya 69 jugendliche Teilnehmer eines Ferienlagers tötete.
Üble Tendenzen wie diese werden durch die Funktionsweise der sozialen Netze massiv verstärkt. Denn ihre Algorithmen versuchen, die Aufmerksamkeit der Nutzer zu binden und ihre Verweildauer in den Netzwerken zu maximieren – mit der Folge, dass sich erregende Meldungen schneller verbreiten als wohldurchdachte, Lügen schneller als die Wahrheit und Hass und Hetze wirksamer als Toleranz und Besonnenheit.
Das südostasiatische Myanmar war »für die digitale Welt das letzte unerschlossene Land«, bis die Regierung 2012 die ersten Mobilfunklizenzen versteigerte. Das soziale Netzwerk Facebook gewann das Rennen um die digitale Vorherrschaft im Land, indem es die Datenübertragung für den Zugang zur eigenen Website und ausgewählten anderen Angeboten kostenlos zur Verfügung stellte. Damit wurde Facebook de facto zum einzigen Anbieter von Informationen über das Internet, weil die meisten Leute sich den Zugang zum Rest des Netzes schlicht nicht leisten konnten. Diese Monopolstellung nutzte das Militär, flutete – weitgehend unwidersprochen – Facebook mit Falschnachrichten und Hasssprüchen gegen die muslimische Minderheit der Rohingya und verschaffte sich damit die Legitimation zu dem schrecklichen Massaker von 2017, bei dem ganze Dörfer niedergebrannt, viele Menschen vergewaltigt und getötet und mehrere 100 000 Muslime vertrieben wurden.
Unter den Mitarbeitern von Facebook gab es zu diesem Zeitpunkt einen einzigen, der die Landessprache Burmesisch verstand, und der saß in Dublin. Daher hatte die Firma von der Katastrophe, die sich in ihrem Netz anbahnte, nichts mitbekommen – und wollte dies vielleicht auch gar nicht. Jedenfalls hat sie damals sämtliche internen Warnungen vor den üblen Folgen von Hass und Hetze der Steigerung der Reichweite zuliebe in den Wind geschlagen. Wir wissen das, weil Frances Haugen, eine hochrangige Mitarbeiterin des Konzerns, aus Gewissensgründen firmeninterne Texte mitnahm, bevor sie Facebook verließ; und Andrian Kreye weiß darüber aus erster Hand zu berichten, weil er die Veröffentlichung dieser Texte als Redakteur der »Süddeutschen Zeitung« mitbetreut hat.
Nach einer überaus düsteren Beschreibung der Gegenwart – Donald Trump und Elon Musk bleiben nicht unerwähnt – schließt der Autor mit einer überraschend günstigen Zukunftsprognose. Natürlich könne man nicht wissen, was kommt; aber es sei abermals eine staatliche Stelle, in diesem Fall die Gesetzgebung der EU, welche die Sache zum Guten wenden könne.
Ein Werk mit einer Fülle von Informationen, die man anderswo kaum so gebündelt und ausführlich erläutert finden dürfte.
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