»Der Gesang in den Meeren«: Trip zur Selbstfindung
Der fiktive Münchhausen hat es einmal geschafft: sich am eigenen Schopf aus dem Sumpf zu ziehen. Im wirklichen Leben ist es schwieriger. An einem Tiefpunkt in ihrem Leben ist die Autorin Doreen Cunningham angekommen. Sie hatte als Umweltingenieurin in der Klimaforschung beim britischen Natural Environment Research Council gearbeitet und später als Journalistin für die BBC berichtet. Doch nach einem erbitterten Streit um das Sorgerecht für ihren gerade geborenen Sohn landet sie psychisch erschöpft in einem Heim für obdachlose und alleinerziehende Mütter auf der Insel Jersey. Arbeiten gelingt ihr nur mäßig, Lebensmittel holt sie von einer Art Tafel, ihr Kind wird gemobbt und finanzielle Sorgen bestimmen ihr Leben, das ihr mehr und mehr aus den Händen gleitet, schreibt sie.
Gestrandet im Heim auf Jersey erinnert sich Cunningham an die heilende Wirkung der Natur und an ihre früheren Erlebnisse mit Walen im Norden Alaskas, „ich dachte an Wale. An ihren rhythmischen, langsamen Atem, der mich über das Meereis hinweg als Zischen erreichte“. Sie hatte einige Jahre vorher für einige Monate in der rauen Landschaft der Arktis gelebt. Dort fand sie nicht nur ein Land von erstaunlicher Schönheit und Gefährlichkeit; aufgenommen von einer einheimischen Familie fühlte sie sich mit den Menschen und der Natur verbunden und lebendig.
Also beschließt sie, dass es auch diesmal eine ähnlich heilende Reise werden soll. Sie verspricht sich nicht nur einen Weg zurück in ihr altes Leben, sie will auch ihrem Sohn Max zeigen, wie Mensch, Wal und Natur verbunden sind. Dafür plant sie eine Reise entlang der Wanderroute der Grauwalmütter, die mit ihren Kälbern Tausende von Meilen wandern: von Mexiko aus entlang der kalifornischen Strände bis nach Alaska. Also reist auch Cunningham mit ihrem zweijährigen Sohn Max immer wieder zu einzelnen Stationen der Walroute – nur eben mit Bussen, Zügen und Schiffen. An geeigneten Stationen fahren sie in Booten aufs Meer hinaus zu den wandernden Meerestieren, um dort mit allen Sinnen direkten Kontakt mit ihnen aufzunehmen. Der Endpunkt der Reise der Wale sind die fischreichen Gewässer der Beringstraße in Alaska. Cunninghams Reise endet bei der Iñupiaq-Familie in Alaska, die sie damals aufgenommen hatte.
Doreen Cunningham ist mit diesem Buch eine schöne Mischung aus Reisebericht und wissenschaftlicher Dokumentation gelungen. Interessant zu lesen sind auch die Einblicke in ihre Arbeit beim BBC und warum der britische Sender Klimaleugnern anfangs so großen Raum gegeben hatte und den wissenschaftlichen Ergebnissen von »echten Klimaforschern« nicht die angemessene Bedeutung beigemessen wurde.
Cunningham schreibt zudem berührend ehrlich über ihre Kindheit mit einer schwer depressiven Mutter, ihre Zweifel als Alleinerziehende, ihre Selbstfindung, die Schwierigkeiten, mit einem Kleinkind zu reisen. Sehr poetisch schildert sie ihre Erlebnisse in der Natur, sinnlich erzählt sie von den Walen, anklagend und sachlich über den Klimawandel. Dabei berichtet sie nicht nur von eigenen Erfahrungen, sondern führt immer wieder Forscher und Forscherinnen an. „Wenn der Gesang von Buckelwalen wie klassische Musik ist, dann sind Grönlandwale Jazz“, zitiert die Autorin die Forscherin Kate Stafford, die Walgesänge erforscht.
Bücher über Roadtrips sind wie Reiseberichte, diese Wal-Reise ist jedoch geschrieben wie eine Geschichte über die Liebe zum Leben, zu den Walen und zur Schönheit der Natur.
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