»Der indigene Kontinent«: Die wahre Geschichte der Ureinwohner Nordamerikas
Es ist ein bedeutendes Treffen der Diplomatie. Im Sommer kommen mehr als 1000 Delegierte aus rund 40 Nationen in Montreal zusammen. Nach langen Beratungen beschließen sie gemeinsam ein Abkommen. Als krönenden Abschluss pflanzen sie einen Baum, auf dass aus seinen Wurzeln Frieden erwachse. Es klingt fast wie ein Treffen der UNO. Aber in der Tat versammeln sich hier im Jahr 1702 indigene Nationen, die einen bemerkenswerten Vertrag mit Frankreich schließen. Hört sich das nach Winnetou, Pocahontas und wild um Marterpfähle tanzende Indianer an?
Die übliche Sichtweise ist so: Kurz nachdem die europäischen Siedler in Nordamerika angekommen waren, besiegten sie die Indianer, steckten die wenigen Überlebenden in Reservate und vernichteten deren Kultur. Ergänzend zeigen Filme das Bild von grausamen oder auch mal heldenhaften Kriegern. In anderen Versionen werden die Indianer als Völker verehrt, die friedlich im Einklang mit der Natur leben. Doch das sind verzerrte Vorstellungen über das tatsächliche Leben der Ureinwohner Nordamerikas.
Pekka Hämäläinen, Professor für Amerikanische Geschichte an der University of Oxford, will das verfälschte Geschichtsbild geraderücken. Bücher über die Indianerkriege gebe es einige, so der Autor, der sich schon lange mit der Historie der Ureinwohner Nordamerikas beschäftigt. Bekannt wurde er mit seiner Studie aus dem Jahr 2008 über »Das Imperium der Comanchen«.
Gleich zu Anfang macht er klar: Wenn es um Kriege geht, sollte man nicht von »Kriegern« schreiben, sondern von »Soldaten oder Soldatinnen«, und Ansiedlungen sind »Städte« oder »Dörfer« und »Häuptlinge« Anführer, Amtsinhaber oder Beamte – oder Hämäläinen nutzt gleich das indigene Vokabular. In seinem Buch gibt es daher auch »Nationen« und »Imperien« – Begriffe, die ausdrücken, wie groß und wie gut organisiert die indigenen Reiche waren.
So schildert Pekka Hämäläinen überaus kenntnis- und detailreich nicht nur die Geschichte von Kriegen, denn »indianische Männer und Frauen waren eben auch geschickte Diplomaten, kluge Händler und energische Anführer«. Mit vielen Fakten und neuen Forschungsergebnissen hat er auf 630 Seiten ein Standardwerk erschaffen, in dem konsequent die indigenen Völker im Mittelpunkt stehen, das aber auch die Sicht der europäischen Siedler nachvollzieht.
Der Kampf gegen den Genozid
Der Autor zeigt, dass es vor allem die Geschichte eines sehr langen und erfolgreichen Widerstands gegen die Kolonisierung und eines versuchten Genozids durch die neuen Siedler war. Auch war Krieg meist das letzte Mittel, denn im Mittelpunkt standen Bündnisse und neu geknüpfte Konföderationen wie das der Six Nations der Wyandot, Lakota, Comanchen, Muscogee, Cherokee und Semiolen. Auch waren es die Indigenen, die bei diplomatischen Verhandlungen den europäischen Vertretern meist die Bedingungen diktierten. Kleinere Nationen nutzten auch andere Strategien des Überlebens wie eine »strategische Mobilität«: Sie verbargen sich in der weiten landschaftlichen Vielfalt Nordamerikas, suchten Zuflucht in den Wüsten, Bergen und Sümpfen. So wie etwa die Catawba, von denen es Mitte der 1820er Jahre nur noch 110 Mitglieder gab. Sie reichten aus, um diese Nation wieder neu zu beleben.
In seinem mit geografischen Karten, Fotos und Abbildungen aufgelockerten Buch berichtet Hämäläinen zunächst über die ursprüngliche Besiedlung Nordamerikas, leitet dann über in das 16. Jahrhundert und schließt mit dem späten 19. Jahrhundert. Mal stellt der Autor einzelne Nationen wie die Wampanoags, die Irokesen oder die Apachen in den Mittelpunkt. Mal schildert er die Geschehnisse im Detail, mal etwas weiter gefasst. Auch bedeutende Anführer wie Sitting Bull (oben im Bild), Red Cloud, Crazy Horse oder Mangas Coloradas tauchen auf. Aber er erzählt nicht die Geschichte einzelner Helden. Denn er wollte nicht den Fehler anderer Historiker und Historikerinnen wiederholen und »menschliche Monolithe« betrachten. Er wollte kein weiteres »Ideendrama« mit »eindimensionalen Klischeegestalten« verfassen, so der Autor.
Eine grausame Bilanz
Hämäläinen berichtet unter Bezugnahme auf historische Quellen von den genozidalen Kampagnen der Siedler und Soldaten. Wir erfahren, dass sie 70 Prozent der indigenen Bevölkerung umbrachten, den Rest zwangsumsiedelten und nach und nach alles, was Indianer zu Indianern machte, verboten. Doch die überlebenden 250 000 Ureinwohner reichten, so der Autor, aus für eine kulturelle Wiederbelebung. Heute gebe es viele indigene Nationen und Communitys, die ihre (nationale) Identität aufrechterhalten.
Das Buch von Hämäläinen ist nicht das einzige, das sich dieses Themas annimmt. In letzter Zeit sind weitere Werke erschienen, etwa »Eine Geschichte des amerikanischen Volkes« von Howard Zinn, das – neu aufgelegt – das Geschichtsbild um die indigene Sichtweise bereichert. Andere Bücher wie »Der Lithium-Rush« von Felix Dorn widmen den Indigenen und beispielsweise der Ausbeutung des Lithiumvorkommens in ihrem Land ganze Kapitel.
Auch wenn der ganz kurze Blick in die Gegenwart vielleicht etwas zu optimistisch sein mag: »Der indigene Kontinent« ist eines der besten Bücher zur Geschichte der nordamerikanischen Ureinwohner und der weißen Eroberung ihres Landes. Die Darstellung wird der Komplexität ihres Gegenstand gerecht, ist aber zugleich verständlich geschrieben und spannend zu lesen – eine absolute Leseempfehlung!
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