»Der Kontinent ohne Eigenschaften«: Weltgeschichte – in Zukunft ohne Europa?
Als »Krebs der Menschheit« bezeichnete die Kulturkritikerin Susan Sontag »die weiße Rasse«. Intellektuelle wie sie verkörpern für Sloterdijk »die in Europa einheimische Europhobie«.
Einst spielten die Europäer noch »Heldenrollen« in einer »großen Geschichte«. Stattdessen benutzten sie heute lieber eine »Ausfahrt aus der Weltgeschichte in die Ferien«. So erscheinen Sloterdijk die hedonistischen »Massenkulturen« als regressiv, er attestiert den ausgelassenen zwanziger Jahren des 20. Jahrhunderts einen Hang zu »forcierter Frivolität«, womit er implizit die heutige Kultur meint. Diese bringe weder für das Allgemeinwohl noch für die eigene Geschichte Verständnis auf.
Europäer verstünden sich nicht mehr als Volk, sondern als Bevölkerung. Die Europäische Union besitzt für Sloterdijk keine »phallische Strahlkraft« mehr wie einst die europäischen Hauptstädte Rom, Madrid, London oder Paris. Dadurch habe Europa seine herausragenden Eigenschaften verloren. So bezieht sich der Titel des Buchs auch auf Robert Musils monumentalen Roman »Der Mann ohne Eigenschaften«, dessen Hauptfigur in der Wiener Monarchie vor dem Ersten Weltkrieg einfach mitschwimmt.
Sein Buch setzt bewusst Lesezeichen, das heißt: Sloterdijk konzentriert sich auf einige wenige Texte, die er mit Blick auf das heutige Europa für relevant hält, unter anderem Oswald Spenglers »Der Untergang des Abendlandes«. Sloterdijk schreibt: »Was die caesaristischen Prognosen Spenglers für das heutige ›Abendland‹ anbelangt, sind sie seit Längerem definitiv abgetan – jedoch kehren sie aus Europas verlorenem Fernen Osten als moskowitischer Spuk zurück. Es machte, im Gegenteil, den Charme und den Vorzug Europas bis zum Beginn des 21. Jahrhunderts aus, dass es weder die Mittel noch den Willen zur Ausübung einer welthegemonialen Funktion besaß. Es erweist sich jetzt als seine bewusste Schwäche, um nicht zu sagen seine amiable Schande, dass es sich allzu lange einem pseudo-kantischen Trugbild vom Ewigen Frieden verschrieb und seine Selbstbehauptung in einer unfriedlichen Welt vernachlässigte.«
Die Angst vor dem Ernstfall
So hätten die Europäer »ein allgemeines Ernstfallverbot verhängt. Für sie kommt jeder reale Notstand einem Verfassungsbruch gleich.« Für jene, die Europa ablehnen, sei dagegen »das Pathos allgemeiner Menschenwürde und weiblicher Gleichberechtigung nicht mehr als ein eurozentrischer Spleen«.
Für Sloterdijk entspringt der Kolonialismus, den die heute populären Postcolonial Studies erneut kritisieren, dem Missionsgedanken; als nämlich um 1500 der Katholizismus unter dem Druck der Reformation stand, sich aber gleichzeitig durch die verbesserte ozeanische Schifffahrt die Möglichkeit eröffnete, in fernen Ländern zu missionieren. Dass dies in massive Gewaltanwendung ausartete, klagten viele Missionare an.
Eine weitere Triebfeder des Kolonialismus sieht Sloterdijk in der erfolgreichen Bevölkerungspolitik in Europa nach den großen Pestepidemien um 1400, denen fast die Hälfte der Westeuropäer zum Opfer gefallen war. So zerstörte man durch die Hexenverfolgung das Wissen um Verhütung, was die europäische Bevölkerung massiv anwachsen ließ. Daher suchten Millionen Europäer ihr Glück in fernen Ländern.
Das Buch endet mit Betrachtungen des Kolonialismus. Dabei zitiert Sloterdijk zunächst aus dem antikolonialistischen Manifest »Die Verdammten dieser Erde« von Frantz Fanon, das 1961 erschienen ist. Für Fanon »hört der Siedler nie auf, der Feind, der Gegenspieler, genau eben der Mann zum Abschlachten zu sein.« Demgegenüber verteidigt Sloterdijk das alte Europa: »Im Lauf der innerafrikanischen Konflikte, die auf den Rückzug der Kolonialmächte nach 1960 folgten, kamen fast doppelt so viele Menschen ums Leben, wie durch den Sklavenhandel zwischen 1519 und 1867 nach Amerika deportiert worden waren – das sollen nach jüngeren präzisierten Schätzungen elf Millionen gewesen sein.«
Eloquent und mit weitem historischem Horizont blickt Sloterdijk in diesem Buch auf das heutige Europa, dessen gegenwärtige Schwäche er bedauert. Was er stattdessen postuliert, ist viel mehr als nur eine »Zeitenwende«. Es ist ein Paradigmenwechsel im Selbstverständnis des Kontinents, dem man freilich nicht folgen muss.
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