Mehr als nur Impfstoffe
Der Auftakt des Buchs ist dramatisch: Ein Mann wird kurz nach Ausbruch der Corona-Pandemie nach einer Hirnblutung bewusstlos in die Berliner Charité eingeliefert und kämpft um sein Leben. Für die Leserinnen und Leser beginnt an dieser Stelle der Rückblick auf sein Leben. Bald wird klar: Es handelt sich um Ingmar Hoerr (* 1968), Molekularbiologe, Unternehmer und Gründer des Tübinger Biotechnologie-Unternehmens CureVac – der Mann, der als Doktorand herausfand, wie sich mRNA als therapeutischer Impf- oder Wirkstoff einsetzen lässt. Dank dieser Technik, von der aktuell die ganze Welt profitiert, wurde Hoerr für den diesjährigen Nobelpreis nominiert.
Packende Story
Das Buch überzeugt durch sein originelles Konzept, bei dem es mehrere inhaltliche Schwerpunkte geschickt miteinander verbindet und als packende Story unter einen Hut bringt: die Lebensgeschichte einer großen Forscher- und Unternehmerpersönlichkeit, das enorme Potenzial der mRNA-Technologie und schließlich die vielen Erschwernisse, mit denen ein Biotechnologie-Start-up in der deutschen Forschungslandschaft zu kämpfen hat.
Der Autor Sascha Karberg ist selbst Biologe und mehrfach ausgezeichneter Wissenschaftsautor sowie Leiter des Ressorts Wissenschaft und Forschung des »Berliner Tagesspiegel«. Mit seinem Buch legt er ein profund recherchiertes, inhaltsstarkes Werk vor, das sich gut liest und auch sprachlich überzeugt: So beschreibt er Hoerrs Schicksal auf empathische, berührende Weise, während er wissenschaftliche Fakten präzise und sachlich auf den Punkt bringt.
Gespräche mit Hoerr selbst, seiner Ehefrau sowie bedeutenden Wegbegleitern, beginnend in seinen Tübinger Jahren als Doktorand, fließen ins Buch ein und machen den Forscher als Mensch erlebbar – als Workaholic und Familienvater, als Weltumsegler und Businessman und zuletzt als Rekonvaleszent, der glücklicherweiseweise wieder gesund wird.
Leserinnen und Leser sollten vor allem Interesse an der mRNA-Forschung mitbringen. Denn Karberg erklärt äußerst detailliert, wie der menschliche Körper via injizierter mRNA »Baupläne« erhält, nach denen er Eiweiße synthetisiert – seien es Antikörper oder fehlende Enzyme. Einige Abbildungen erleichtern das Verständnis; Interessierte finden am Ende des Buchs zudem ein Literaturverzeichnis und ein Glossar.
Der Autor beschreibt chronologisch die Entwicklung der mRNA-Technologie und den aktuellen Forschungsstand bei Impfungen gegen Infektionskrankheiten und Krebs sowie bei Antikörper- und Enzymersatztherapien. Ranghohe internationale Forscher und Forscherinnen werden dabei erwähnt und ihr wissenschaftlicher Beitrag hinsichtlich einer potenziellen Nobelpreisvergabe mit Hoerrs Leistung abgewogen.
Karberg gelingt es, den mRNA-Pionier stellvertretend für die vielen Gründerinnen und Gründer vorzustellen, »für die Innovation nicht nur ein Schlagwort ist«. Er beschreibt eindrucksvoll, wie Hoerr seine Firma CureVac nach Krisen in den Anfangsjahren zu einem weltweit operierenden Biotech-Unternehmen macht, wie er schließlich Sponsoren wie SAP-Gründer Dietmar Hopp, Microsoft-Gründer Bill Gates und Tesla-Chef Elon Musk und – im März 2020 – auch die Bundesrepublik Deutschland als Förderin gewinnen kann, die damit erstmals in ein deutsches Biotech-Unternehmen einsteigt. Das ist spannend zu lesen, als Leser sitzt man quasi mit am Verhandlungstisch und lernt das Big Business der Branche kennen.
Karberg gewährt aufschlussreiche Einblicke in die »Biotech-Wüste« Deutschland und die florierende US-amerikanische Forschungslandschaft. Dabei analysiert er, welche Rolle der Staat als Impulsgeber für Innovationen spielen kann, beispielsweise um deutsche Start-ups im Land zu halten. Denn teilweise erzielen diese in den USA ihre Gewinne, weil es hier zu Lande an risikobereiten Investoren und innovationsfördernden Rahmenbedingungen mangelt. Der Autor lässt Wissenschaftler, Sponsoren und Firmengründer kommentierend zu Wort kommen, darunter etwa die Virologin Helga Rübsamen-Schaeff, die 2006 das Pharmaunternehmen Aicuris gründete, ein Ausnahmeerfolg in Deutschland.
Letztlich gewannen andere das Rennen um den ersten Impfstoff gegen Sars-CoV-2: Biontech/Pfizer und Moderna – obwohl beide Firmen später in die mRNA-Technologie einstiegen. Das Buch erklärt, wie es dazu kam. Klar wird auch, dass Curevac in der Forschung und Entwicklung von mRNA-basierten Impfstoffen und Krebsimmuntherapien weiterhin international ganz vorne mit dabei ist, auch wenn es mit einem Coronaimpfstoff noch keinen großen Erfolg erzielte. In dem Feld der neuartigen Vakzine rücken aber mittlerweile auch andere Bereiche wie Influenza, HIV und Autoimmunerkrankungen in den Fokus. Das letzte Kapitel gewährt interessante Einblicke in zukunftsträchtige Forschungsprojekte, ohne sich dabei ausschließlich auf das Tübinger Unternehmen zu fokussieren.
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