300 Meter in den Wald geflohen
Wolfgang Ködel, studierter Maschinenbauer, gründet mit zwei Partnern eine Firma für Laserschneidtechnik. Der Betrieb läuft lange gut. Er wächst und wirft schon bald einen Jahresumsatz von einer Million D-Mark ab. Die Mitarbeiter können sich vor Aufträgen kaum retten, doch die Firma bestimmt zu diesem Zeitpunkt längst ihr Leben.
Einer von Ködels Partnern beginnt zu zweifeln und spielt mit Ausstiegsgedanken. Ein anderer kündigt, macht sich selbstständig und nimmt viele Kunden mit. Der Umsatz sinkt und Ködel wird lethargisch. Irgendwann schafft er es morgens nicht mehr, in die Firma zu gehen, bleibt zu Hause und bricht zusammen. Das Unternehmen geht insolvent. Ködel isoliert sich nun völlig, öffnet nicht mehr die Tür. Sein Haus wird verkauft, er soll ausziehen. Daraufhin beschließt er, zu fliehen: vor seinen Gläubigern, seinen Problemen, der ganzen Welt.
Ködel zieht in den Wald, wenige hundert Meter von seinem einstigen Haus entfernt. Dort lebt er drei Jahre allein in einem Zelt und ernährt sich von weggeworfenen Lebensmitteln in Supermarktcontainern. Der Mann, für den Natur schon immer ein Zufluchtsort vor dem Alltagsstress war, findet dort Stück für Stück zurück zu sich selbst. So lange, bis schließlich er gefunden wird.
Nichtchronologische Darstellung
Die Journalistin und Sachbuchautorin Sabine Eichhorst hat sich dieser wahren Geschichte angenommen und erzählt sie im vorliegenden Buch lebendig nach. Der Text wirft immer wieder Schlaglichter in die Vergangenheit des Protagonisten. Als Leser(in) kann so nachvollziehen, wie es zu Ködels radikalem Ausstieg kam. Liest man eingangs über seine Flucht in den Wald, beschreibt das darauffolgende Kapitel die Zeit seiner Existenzgründung. Die Erzählstränge werden nach und nach immer mehr verwoben, so dass allmählich ein Gesamtbild von Ködels Lebensgeschichte entsteht.
Der Entschluss des Mannes, alles hinter sich zu lassen und in den Wald zu ziehen, wirkt natürlich absurd. Dennoch findet man sich als Leser irgendwo darin wieder und entdeckt Sympathien für den Protagonisten. Ködels Lebensgeschichte demonstriert eindrucksvoll, welches Rädchen im Getriebe einer kapitalistischen Konsumgesellschaft man trotz aller empfundenen Selbstverwirklichung sein kann. Und sie zeigt ebenso, was es heißt, sich dagegen zu entscheiden und fortan ohne gesellschaftliche Konventionen zu leben.
Je weiter man Ködel während seiner Metamorphose vom profitorientierten Unternehmer zum Überlebenskünstler im Wald folgt, desto mehr scheinen gesellschaftliche Kategorien zu verschwimmen. Es zeigt sich, dass der vermeintliche gesellschaftliche Abstieg des Protagonisten zugleich seinen persönlichen Aufstieg bedeutet. Dass ein Schritt zurück gleichzeitig zwei Schritte vorwärts sein können und privates Glück nicht unbedingt mit beruflichem Erfolg einhergeht.
An Grundsätzliches rührend
Das Buch regt dazu an, gesellschaftliche Normen zu hinterfragen. Was bedeutet "Erfolg"? Wie definiert man Glück? Was ist Freiheit? Wer sind die "Gewinner" und "Verlierer" unserer Gesellschaft? Aus dem Werk geht hervor, dass diese Fragen gar nicht so einfach zu beantworten sind. "Der Mann im Wald" zeigt aber auch, dass die Gesellschaft einen nicht loslässt, nur weil man beschlossen hat, ohne sie auszukommen. So taucht bei der Lektüre immer wieder die Frage auf: Frei sein – was ist das und inwieweit darf man das? Welche Vorteile hat es, sich zu integrieren?
Ganz nebenbei beschreibt die Autorin das Burnout-Syndrom. Der Leser erfährt, was dieser Erschöpfungszustand mit einem anstellt und wo er hinführen kann, obgleich Ködels Beispiel natürlich extrem ist. Nichtsdestoweniger kann man das Buch als einen Appell verstehen, sich mit dem eigenen Leben bewusster auseinanderzusetzen und auf sich selbst zu achten.
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