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Buchkritik zu »Der Mensch wird geboren«

Die modernen Biowissenschaften eröffnen eine geradezu ungeheuerliche Perspektive: Erstmals könn­te der Mensch sich selbst nachhaltig verändern und somit zu einem ganz anderen, auch nicht-menschlichen Wesen werden. Spätestens seit den bahnbrechenden Erfolgen bei der Entzifferung des menschlichen Genoms wird daher leidenschaftlich darüber debattiert, ob die Freiheit der Forschung geradewegs zur Selbstabschaffung des Menschen führt. Bei diesem öffentlichen Streit um die »Biopolitik« ist Volker Gerhardt, Philosoph an der Humboldt-Universität Berlin, Leiter des DFG-Beirats zur Förderinitiative Bioethik und Mitglied des Nationalen Ethikrats, wiederholt in die Schusslinie der Kritik geraten. Nun hat er den Fehdehandschuh aufgenommen und eine lesenswerte Verteidigungsschrift für den »humanen Impuls der Forschung« vorgelegt.

In den Medien, so Gerhardt, wird gern folgender Frontverlauf unterstellt: Auf der einen Seite die »Pragmatiker und Profiteure« der Forschung, die »noch nicht einmal die Verfassung achten, weil sie nur die Standortvorteile, ihre wissenschaftliche Karriere und ihre Patente im Kopf haben«. Und auf der anderen Seite die »politischen Moralisten«, die »rhetorischen Anwälte der Menschenwürde«, die sich »ihre hohen ethischen Zwecke durch kein noch so verlockendes Mittel entheiligen« lassen.

Gerhardt selbst sieht sich zwischen den Fronten. Denn er sympathisiert mit der seltenen Spezies der »moralischen Politiker«, Menschen also, die vor allem an ihren guten Taten gemessen werden wollen, und konzentriert seine Abneigung auf jene, die sich bevorzugt auf ihre guten Absichten berufen. In Anlehnung an Immanuel Kant charakterisiert Gerhardt jene »politischen Moralisten« als »Leute, die zwar öffentlich von Moral reden, in Wahrheit aber nichts für sie tun«.

So findet er es »unerträglich, dass angesichts der neuen Forschungsperspektiven die absolute Schutzwürdigkeit des Embryos beschworen wird, während im alltäglichen Umgang mit der unerwünschten Schwangerschaft die größte private Willkür herrscht«. Indem der Staat die Abtreibung zwar als rechtswidrig, aber nicht als strafbar qualifiziert, befinde er sich im latenten Konflikt mit seiner eigenen Verfassung. Ausgerechnet dieser Staat solle nun auch noch von den »politischen Moralisten« dazu gezwungen werden, »gegen ein explizites Grundrecht, nämlich die Forschungsfreiheit, zu verstoßen«. Das »größte Ärgernis« aber sei, dass man diejenigen, die diese Ungereimtheiten zur Sprache bringen, mit Vorwürfen überschütte.

Gerhardt plädiert für eine Wiederaufnahme der Verfassungsdiskussion über den Schutz ungeborenen Lebens. Er will einerseits den Schutz des menschlichen Keims garantieren, andererseits jedoch unter »strikten medizinischen Auflagen« Embryonenforschung gestatten. Daher schlägt er vor, den Anfang des individuellen menschlichen Lebens mit der Geburt und nicht mit der Verschmelzung von Ei- und Samenzelle zu definieren: »Schwangerschaft ist der Zustand, in dem die Frau das Kind nicht schon hat, sondern erst bekommt.«

Bei seiner Argumentation sucht der Autor bevorzugt nach historischen Zugängen: »Konfuzius, Salomon, der Prediger Kohelet, Buddha oder Jesus sagen uns heute immer noch mehr über die Grenzen des menschlichen Daseins als die Expeditionen ins Weltall oder die Kartierung des menschlichen Genoms.«

Bei seinen geradezu lustvoll vorgetragenen Attacken gegen die »politischen Moralisten« setzt Gerhardt nur selten einen wirklich groben Keil auf einen der groben Klötze. Dank großen Wissens und Schreibtalents gelingt es ihm immer wieder, den pessimistischen Alarmismus der Medien, die Larmoyanz des Zeitgeistes und die hier zu Lande verbreitete Neigung zur Dämonisierung von Technik als Anmaßung zu entlarven: »So ungeheuer die Herausforderung durch das Neue auch ist: Schlimmer als die Vergangenheit war, kann die Zukunft kaum werden.«

Warum sollte man überhaupt genetisch hochgerüstete Monsterwesen erschaffen, wenn doch »die Perfektion der Technik« schon heute den einzelnen Menschen davon entlaste, »selbst immer größer, schneller und schlauer zu werden«? »Der Mensch«, so Gerhardts Prognose, »kann die Selbstabschaffung der Menschheit nicht wirklich wollen.« Die Kontinuität unseres kulturellen Erbes werde sich auch bei der »biopolitischen Selbstbegrenzung des Menschen« als wirksam erweisen. Und trotz der großen Erfolge der Wissenschaft und des zu erwartenden starken Wandels in den Lebensbedingungen bestehe die Hoffnung, dass es auch weiterhin möglich sein wird, Ethik, Recht und Politik auf die unverändert gültigen Werte der Humanität zu verpflichten.

Dieses wiederholte »Kopf hoch« liest man gern – zumal, wenn einem das Wasser gegenläufiger Argumente bereits bis zum Halse steht. Dennoch ist dieses grundgescheite Buch an der Aufgabe gescheitert, aus dem Dilemma der biopolitischen Debatte zu führen.

Wer Humanität und Fortschritt gern als zwei Seiten einer Medaille betrachtet, dem sollten Kopf und Zahl gleichwertig sein. Gerhardts Argumentation gleicht jedoch einem Münzwurf, der auf eine neue Ethik der Zahl zielt: Menschenwürde bemessen an der Quote absolvierter Zellteilungen. Wird dem Embryo zu therapeutischen Zwecken seine Würde und Personalität genommen, mutiert er unweigerlich zur globalen Wirtschaftsware. Gerhardt hat übersehen, dass selbst der Aufruf zur Barmherzigkeit – an falscher Stelle ausgesprochen – inhumane Folgen haben kann.

Nicht jeder ist gleich ein »politischer Moralist«, der Gerhardts Lösungsformel »Der Mensch wird geboren« um die Formel »Der Mensch entwickelt sich aus einer Zygote« ergänzt wissen möchte.

Im Sinne der »biopolitischen Selbstbegrenzung des Menschen« könnte ein Gedanke Ernst Bendas helfen, den »humanen Impuls der Forschung« nachhaltig zu sichern: Der menschliche Embryo, so der ehemalige Verfassungsrichter, kann zwar vom Staat nicht wirksam gegen den Willen der Mutter geschützt werden, wohl aber gegen den Willen der Wissenschaftler.

  • Quellen
Spektrum der Wissenschaft 01/2003

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