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Buchkritik zu »Der Stoff, aus dem der Kosmos ist«

Es beginnt mit einer ganz alltäglichen Beobachtung: Versetzt man das Wasser in einem Eimer, zum Beispiel durch kräftiges Rühren, in Rotation, so steigt es an den Eimerwänden hoch und nimmt dadurch eine konkav gekrümmte Oberfläche an. Warum?

Zentrifugalkraft, Scheinkräfte, rotierendes Bezugssystem, Gleichberechtigung aller Bezugssysteme, Relativitätstheorie, ein Eimer mit Wasser mutterseelenallein im ansonsten völlig leeren Kosmos rotierend: Mit ein paar kühnen Gedankensprüngen hüpft Brian Greene von dem biederen Wasserbehälter, der schon Isaac Newton als Denkhilfe – und als Argument für die Existenz eines absoluten Raums – diente, bis zu fundamentalen und bis heute ungelösten Fragen von Raum und Zeit.

Von zwei geradlinig gleichförmig gegeneinander bewegten Bezugssystemen ist eins so gut wie das andere, ein absolut gültiges gibt es nicht; die Spezielle Relativitätstheorie lehrt uns, wie diese Erkenntnis mit der absoluten Konstanz der Lichtgeschwindigkeit zu vereinbaren ist. Aber mehrere gegeneinander rotierende Bezugssysteme sind nicht in diesem Sinn gleichberechtigt. Gibt es unter ihnen ein ausgezeichnetes, "das richtige" Bezugssystem?

Wenn ja, ist es nur durch die Bewegung der Materie im Raum definiert oder durch den Raum selbst, was auf eine partielle Wiederauferstehung des eigentlich beerdigten absoluten Raums hinausliefe? Das war nur die Ouvertüre dieses Buchs. Brian Greene, Professor für Physik an der Columbia-Universität in New York, hat seinem Erstling "Das elegante Universum" (Spektrum der Wissenschaft 8/2000, S. 106), der zum Bestseller wurde, ein Monumentalwerk folgen lassen.

Was immer in den letzten Jahrzehnten die Gemüter der theoretischen Physiker und vor allem der Kosmologen bewegte – Greene schreibt darüber. Wie kann es sein, dass die Messung eines Quantenzustands augenblicklich und unter Missachtung der (Licht- Geschwindigkeitsbeschränkung einen mit diesem verschränkten Quantenzustand beeinflusst? Von dieser "spukhaften Fernwirkung" gibt es zahlreiche, noch paradoxere Varianten, darunter solche mit Zeitverzögerung. Ob ich heute eine Messung vornehme oder auch nicht, scheint Ereignisse zu beeinflussen, die vor zehn Jahren stattgefunden haben.

Solcherart auf die Spitze getrieben, weist das Paradox den Weg zu seiner Lösung: Es sind nicht die Ereignisse, die sich nachträglich verändern, sondern unsere Interpretation derselben; nur ist es in der Quantenmechanik manchmal sehr schwer, das eine vom anderen zu unterscheiden. Wie kommt es, dass die Entropie des Universums beständig zunimmt, obgleich keines der fundamentalen physikalischen Gesetze einen Unterschied zwischen Vergangenheit und Zukunft macht? Es sind die Anfangsbedingungen, die eine Richtung der Zeit (den "Zeitpfeil") festlegen.

Nachdem kurz nach dem Urknall das gesamte Universum sich explosionsartig aufblähte (die "kosmische Inflation"), war seine Materie sehr gleichmäßig verteilt, und das war im Gegensatz zu dem, was man in der Thermodynamik zu denken gewohnt ist, ein Zustand sehr niedriger Entropie. Unter der Wirkung der Gravitation ist der heutige Zustand des Universums mit voneinander getrennten Materieklumpen weit wahrscheinlicher und damit entropiereicher als ein homogener Feinstaub.

Das ist ein durchgehendes Merkmal des Buchs: Es ist so dick, weil es sich Zeit lässt. Dank epischer Breite kann Greene Dinge plausibel machen, die in anderen populären Darstellungen stets dunkel bleiben (wie der Redakteur, der eine weit engere Seitenzahlbegrenzung einzuhalten hat, neidvoll zugestehen muss). Das wird besonders deutlich in der Stringtheorie und ihrer Fortsetzung, der M-Theorie, nach der alle Elementarteilchen Schwingungszustände noch elementarerer Objekte sind: elastisch und fadenförmig (strings) oder trommelfellartig (membranes) oder p-dimensionale Verallgemeinerungen von trommelfellartig (p-branes), und das Ganze in zehn- bis elfdimensionalen Raumzeiten, von denen alle bis auf die vier vertrauten Dimensionen zu sehr kleinen Kreisen oder Schlimmerem aufgewickelt sind.

Hier, in seinem eigenen Arbeitsgebiet, bietet Greene ein wahres Feuerwerk an Analogien auf. Wie weit jede einzelne trägt, wissen die Physiker wahrscheinlich selbst nicht so genau, denn das Gebiet ist noch sehr im Fluss. Am Ende erzählt Greene, was die gänzlich entfesselte Fantasie seiner Fachkollegen sonst noch hervorgebracht hat: Wurmlöcher, Zeitreisen mit und ohne Großvaterparadox, verschiedene Vielweltentheorien und die Vorstellung, alles Geschehen in unserer Welt sei eine Art Abbild von etwas Zweidimensionalem (das "holografische Universum"). Vielleicht ist ja auch der ganze Raum von einem ungeheuer zappeligen Gewürm aus ungeheuer kleinen Strings angefüllt und damit unvermeidlich ein absoluter Raum – was nebenher die Frage mit Newtons Eimer erledigen würde.

Der Text ist konsequent formelfrei gehalten. Nur in den Anmerkungen, von denen manche zu eigenen kleinen Abhandlungen angewachsen sind, finden sich Formeln – und helfen auch nicht, weil sie zu viel voraussetzen. Den Bildern sieht man an, dass sie eigentlich farbig und weniger mickrig sein sollten. Ein grandioses Buch. Aber nehmen Sie sich Zeit!
  • Quellen
Spektrum der Wissenschaft 9/2005

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