Geschichte als Stickarbeit
1066 besiegte der Normannenherzog Wilhelm der Eroberer in der entscheidenden Schlacht von Hastings das angelsächsische Aufgebot unter König Harald II. Die dramatischen Ereignisse von damals sind in einer einzigartigen Bildquelle festgehalten, dem weltberühmten Teppich von Bayeux.
Pierre Bouet und François Neveux (Universität Caen), zwei ausgewiesene Kenner der anglo-normannischen Geschichte, legen in diesem reich illustrierten Bildband eine umfassende Gesamtdarstellung des knapp 70 Meter langen und etwa einen halben Meter breiten Tuchstreifens vor. Sie beantworten Fragen zur Entstehungsgeschichte, zum Aufbau, zur Urheberschaft und Intention des Kunstwerks, das 58 Einzelszenen darstellt.
Zunächst beschreiben Bouet und Neveux die auf den Textilstreifen aufgestickte Bildergeschichte. Sie erörtern detailliert Szene für Szene, erklären die Darstellungen und ordnen sie in den historischen Kontext ein. Anhand verschiedener Aspekte des mittelalterlichen Lebens (Kleidung und Schmuck, Jagd und Tischkultur, Herrschaft und Repräsentation, Kriegswesen und Schiffsbau) vermitteln die Autoren interessante Einblicke in die höfische Welt des 11. Jahrhunderts.
In der skandinavischen Tradition verwurzelt
Wie wirklichkeitsnah die Abbildungen auf dem Tuchstreifen sind, zeigt ein Vergleich mit archäologischen Funden beziehungsweise anderen bildlichen Darstellungen aus dieser Zeit. Viele Details auf dem Teppich von Bayeux stimmen gut mit solchen Quellen überein. Das gilt einerseits für die Werkzeuge, die beim Bau von Wilhelms Invasionsflotte zum Einsatz kamen und die Originalfunden aus der Wikingersiedlung Haithabu stark ähneln. Es gilt aber auch für die Schiffsdarstellungen auf dem Wandteppich, die mit hohem Steven, geradem Kiel und viereckigem Rahsegel den typischen Langschiffen der Wikinger entsprechen. Für Bouet und Neveux sind das Indizien dafür, wie stark die angelsächsisch-normannische Kultur im 11. Jahrhundert noch in der skandinavischen Tradition verwurzelt war.
Souverän behandeln die Autoren den aktuellen Forschungsstand, warten aber auch mit neuen Erkenntnissen auf, etwa zur Datierung und Programmatik des Wandteppichs. Ging man bislang davon aus, dass es sich bei dem Tuchstreifen um ein Propagandawerk handele, das Wilhelms Herrschaft legitimieren und die Eroberung Englands rechtfertigen sollte, sehen die Autoren die eigentliche Botschaft des Teppichs eher darin, die Versöhnung zwischen Angelsachsen und Normannen hervorzuheben. Dies sei, so die Autoren, auch der Grund gewesen, warum die aufwändige Stickarbeit unmittelbar nach der Eroberung Englands und in relativ kurzer Zeit entstanden sei. Vermutlich von Wilhelms Halbbruder Odo, Bischof von Bayeux, in Auftrag gegeben, war der Teppich eine Gemeinschaftsproduktion mehrerer Stickwerkstätten, die an verschiedenen Abschnitten zeitgleich arbeiteten und diese anschließend zusammensetzten, wie die Nahtstellen noch heute zeigen.
Faszinierendes Artefakt
Neben seiner hohen handwerklichen Qualität besticht der Teppich von Bayeux mit durchdachter Ikonographie und künstlerischer Gestaltung. Wie die Autoren schreiben, sei es den mittelalterlichen Künstlern beispielsweise gelungen, den Eindruck räumlicher Tiefe zu erzeugen und verschiedene Augenblicke ein und derselben Aktion in einem einzigen Bild darzustellen.
Längst nicht alle Geheimnisse des Werks sind gelüftet. Nicht hinreichend geklärt ist beispielsweise die Frage, ob der Tuchstreifen ausschließlich als Wanddekor für fürstliche Bankette diente oder auch als "mobile Bildergeschichte", die man zu bestimmten gesellschaftlichen Anlässen einem breiten Publikum präsentierte. Rätselhaft bleibt auch ein nackter, in obszöner Haltung dargestellter Mann, über dem ein Priester abgebildet ist, der eine vornehm bekleidete Frau berührt. Auf welches Ereignis hier angespielt wird, ob vielleicht auf einen damals weithin bekannten Sexskandal, können die Autoren nicht beantworten.
Den Band beschließt ein Kapitel namens "Rezeptionsgeschichte", das sich der Frage widmet, wie über die Jahrhunderte hinweg diverse Akteure immer wieder versuchten, ideologischen Nutzen aus dem Kunstwerk zu ziehen. Etwa Napoleon, der 1803 den Tuchstreifen nach Paris bringen ließ, um die Franzosen auf die von ihm geplante Eroberung Englands einzustimmen.
"Der Teppich von Bayeux" ist lesenswertes und optisch äußerst ansprechendes Buch, das die Geschichte des Kunstwerks umfassend, kompetent und anschaulich vermittelt.
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