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Blick ins Steinzeitgehirn

Was wir aus der evolutionären Vergangenheit des Menschen für die Behandlung heutiger Volkskrankheiten lernen können.

Unsere Spezies hat unbestritten eine Erfolgsgeschichte geschrieben. Der moderne Mensch wanderte vermutlich vor mehr als 50 000 Jahren von Ostafrika zunächst in den Nahen Osten aus und besiedelte bald den ganzen Erdball. Das anpassungsfähige Allroundtalent Homo sapiens hat den Planeten heute fest im Griff: Wissenschaftler sprechen vom Anthropozän, dem Zeitalter des Menschen.

Doch dafür sind wir psychisch und physisch erstaunlich labile Wesen, findet Martin Brüne. Er ist Professor für Kognitive Neuropsychiatrie und Psychiatrische Präventivmedizin an der Ruhr-Universität Bochum. Wir Menschen werden zwar immer älter, erkranken dabei aber an Krebs, Herz-Kreislauf-Erkrankungen und Alzheimer; zudem sind psychische Störungen auf dem Vormarsch. Warum haben wir uns so entwickelt und nicht anders? Und offenbart sich unser stammesgeschichtliches Erbe möglicherweise auch in unseren Defiziten?

Leben nach der Menopause

Auf der Suche nach Antworten muss man zurückblicken. Genau das tut Brüne in zehn Kapiteln. Er legt den Werdegang des Menschen dar, verdeutlicht die Rolle unseres ausgestorbenen Bruders, des Neandertalers, und berichtet, wie Erfahrungen unserer Vorfahren über epigenetische Mechanismen unsere DNA verändern.

Dabei liefert er immer wieder spannende Einsichten. Hätten Sie gewusst, dass außer uns nur wenige Spezies eine Menopause durchlaufen und damit noch lange Zeit leben, ohne Nachkommen zeugen zu können? Im Tierreich kommt das sonst bloß bei Primaten, Elefanten und Orcas vor. Der Sinn eines langen Lebens nach dem Übergang zur altersbedingten Unfruchtbarkeit ist bis heute unklar. Eine mögliche Erklärung liefert die Großmutter-Hypothese. Sie besagt, dass ältere Frauen, die selbst keine Kinder mehr bekommen, einen positiven Effekt auf das Überleben ihrer Enkel haben.

Ein weiteres Beispiel: Anders als Tiere mit seitlichen Augen wie Pferde und Hasen haben wir keine gute Rundumsicht. Das macht uns zur potenziellen Beute für Jäger, die sich unbemerkt von hinten anschleichen können. Möglicherweise war das aber deshalb kein Selektionsnachteil, weil unsere Vorfahren in sozialen Allianzen mit Artgenossen lebten – 20 Augenpaare sehen mehr als eines.

Heute, das wird beim Lesen klar, muss der Mensch sich in modernen Lebenswelten zurechtfinden, auf die ihn die Stammesentwicklung nicht vorbereitet hat. Aus einem Überangebot an Nahrung und der Vorliebe für Hochkalorisches entstehen Zivilisationskrankheiten wie Diabetes und Bluthochdruck. Und das Leben in überfüllten Großstädten abseits der Natur bedroht die psychische Gesundheit. Wie Brüne darlegt, eignen wir uns nicht für das Leben mit Fremden. Denn unsere Wildbeuter-Vorfahren, deren Erbe wir antreten, scharten eine feste Gemeinschaft um sich und trafen nur selten auf Unbekannte, so der Psychiater. Vermehrter psychosozialer Stress, für den unser ererbtes Steinzeithirn nicht ausgelegt ist, trage zu psychischen Störungen wie Depression und Schizophrenie bei. Tatsächlich erkranken Städter daran häufiger als Dorfbewohner.

Gene, die das Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätssyndrom, kurz ADHS, begünstigen, könnten dem Autor zufolge früher von Vorteil gewesen sein: Sie fördern gleichzeitig Spieltrieb und Neugierde. Die Genvariante habe sich möglicherweise etabliert, als Menschen von Afrika aus auf Wanderschaft gingen. Dass heute mehr und mehr Kinder die Diagnose ADHS erhalten, liege vor allem an veränderten Umweltbedingungen. Für stundenlanges Stillsitzen und langweiligen Frontalunterricht eigneten sich die Träger dieser Genvariante schlicht nicht.

Im Lauf des Buchs führt der Autor weitere solche evolutionsmedizinische Erklärungen für psychische Störungen an. Er schreibt stets anschaulich und unterhaltsam und eröffnet damit eine spannende Perspektive auf die menschliche Natur.

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