»Der Ursprung der Zeit«: Im Auftrag eines Genies
Stephen Hawking (1942–2018) war ein ikonischer Rockstar der Physik. Seine populärwissenschaftlichen Bücher sind weltweite Bestseller, die kosmologische Themen wie Schwarze Löcher oder den Urknall salonfähig machten. Aber diese Beschreibung des Ausnahmegenies greift zu kurz, denn Hawking war natürlich auch ein hochprofilierter Wissenschaftler, der trotz seiner Behinderung bis zu seinem Lebensende über die Grundfeste der Physik und des Universums arbeitete. Und insbesondere die Arbeit seiner späten Jahre ist viel weniger bekannt als etwa die nach ihm benannte Strahlung, die von Schwarzen Löchern in einer Quantentheorie der Gravitation ausgehen sollte. Diese Lücke schließt nun der theoretische Physiker Thomas Hertog, der 20 Jahre gemeinsam mit Hawking gearbeitet hat. Herausgekommen ist ein ausgezeichnetes Buch, das ebenso faszinierend wie anspruchsvoll ist.
Der gedankliche Faden beginnt bei der Feststellung, dass es eine ganz erstaunliche Menge an Zufällen im Universum gibt, die dazu führen, dass Leben möglich ist – allen voran die scheinbar sorgfältig austarierten Naturkonstanten. Erklärt sich das aus dem anthropischen Prinzip – dass also das Universum so ist, wie es ist, da wir existieren? Oder wenn man an Multiversen denkt, leben wir eben zufällig in einem, in dem die Umwelt lebensfreundlich ist? Oder kann man diese philosophische Bankrotterklärung überwinden und womöglich doch mehr zu dem Thema sagen?
Die nächsten Kapitel beschreiben die Entwicklung der Kosmologie, die mit der Relativitätstheorie zu Beginn des 20. Jahrhunderts eine solide Grundlage bekommen hatte. Hertog betont insbesondere die Rolle von Georges Lemaître (1894–1966) – mit einem gewissen Augenzwinkern, denn schließlich sind sowohl Lemaître als auch er Belgier. Lemaître erkannte schon früh, dass das Universum einen Anfang gehabt haben muss, und war Albert Einstein (1879–1955) gedanklich voraus, wenn es um die konsequente Anwendung der Relativitätstheorie ging. Das Urknallbild hat sich später auf fantastische Weise experimentell bestätigt und ist heute als »λCDM« Teil des universitären Curriculums – wir leben in einem von kalter, dunkler Materie dominierten Universum (cold dark matter), dessen globale Dynamik durch dunkle Energie (λ) beschrieben werden kann.
Stephen Hawking arbeitete zeitlebens parallel an Schwarzen Löchern und am Urknall, die auf Grund der formal auftretenden Singularitäten mathematische Ähnlichkeiten zeigen. Ende der 1980er Jahre, als der COBE-Satellit gerade die Fluktuationen in der kosmischen Hintergrundstrahlung nachgewiesen hatte und Hertog Stephen Hawking zum ersten Mal traf, arbeitete dieser bereits an einer Quantenkosmologie. Ab hier, etwa in der Mitte des Buches, wird Hertogs Text dementsprechend spekulativer. Aber er schafft es, die gedanklichen Auseinandersetzungen der Vertreter verschiedener Ideen sehr verständlich nachzuerzählen, wobei Hawkings Unbehagen gegenüber dem anthropischen Prinzip der rote Faden der Erzählung ist.
Ob das, was Hertog (und Hawking) als den konzeptionellen Kern einer Quantentheorie des Kosmos ausmacht, tatsächlich den Rahmen für zukünftige Theorien bildet, sei dahingestellt: Das vorgeschlagene »Triptychon« aus Ursprung, Evolution und Beobachterschaft klingt reichlich metaphysisch und erinnert auf Grund der gegenseitigen Verflechtungen gar an die christliche Trinität.
Aber der Autor verengt den Blick nicht unnötig und vervollständigt seinen Überblick über die modernen Ideen der Kosmologie. Insbesondere die Stringtheorie und die holografischen Ideen, in denen mathematische Dualitäten ganz verschiedene Blickweisen auf das gleiche Universum zulassen, werden diskutiert. Und natürlich ist das, was Hertog Hawkings finale Theorie nennt, keineswegs die letztendliche Antwort auf die ganz großen Fragen der Physik.
Ich möchte das Buch von ganzem Herzen empfehlen. Es ist nicht nur eine exzellente Einführung in die moderne Kosmologie, sondern bietet einen tiefgründigen Abriss dessen, was die Fachwelt heute diskutiert. Es wird so dem Wissenschaftler Hawking viel gerechter, als es eine klassische Biografie könnte – denn der Fokus liegt auf der Physik und somit auf dem, was Hawking interessierte. Natürlich findet sich trotzdem auch die ein oder andere nette Anekdote über Hawking im Text, denn schließlich waren der Autor und Hawking nicht nur Kollegen, sondern auch Freunde. Und ganz am Ende verrät Hertog dann auch noch: Dieses Buch war gar nicht seine eigene Idee. Es war Hawking, selbst schon zu schwach geworden für so eine Aufgabe, der ihn regelrecht damit beauftragt hätte. Diesen Auftrag hat Hertog meisterhaft und würdevoll ausgeführt. Hawking selbst hätte kein besseres Buch schreiben können.
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