Zurückblicken, um vorwärtszukommen
Aus der Geschichte lernen: Häufig meint man damit, gegenwärtige mit historischen Begebenheiten zu vergleichen und die Parallelen herauszuarbeiten. Doch viel lehrreicher als Ähnlichkeiten sind die Unterschiede – und die Entwicklungen, die sich zwischen damals und heute vollzogen haben. Genau das stellt der Historiker Magnus Brechtken in den Mittelpunkt seines Buchs.
Gesellschaftliche Errungenschaften der Gegenwart
Der stellvertretende Direktor des Instituts für Zeitgeschichte konzentriert sich dabei auf gesellschaftliche Errungenschaften, die für uns zwar allgegenwärtig, aber nicht immer so sichtbar sind wie technologische Neuerungen. »Wenn wir die Geschichte betrachten, können wir verstehen, wie sich Rationalität, Aufklärung und Vernunft als Prinzipien des Fortschritts erwiesen haben. Demokratie, Rechtsstaat und Parlamentarismus, Gleichberechtigung der Geschlechter und politische Teilhabe aller Menschen – sie alle sind das Äquivalent technischer Errungenschaften der harten Welt«, schreibt Brechtken programmatisch in der Einleitung und umreißt damit das Themenfeld, mit dem er sich in sieben Kapiteln auseinandersetzt. Dabei bezieht er sich vor allem auf Deutschland und andere westliche Demokratien.
Als Ausgangspunkt für die einzelnen Betrachtungen dienen meist zeitgenössische Bezüge. So leitet er das Kapitel zu den Geschlechterverhältnissen mit Zitaten von islamischen Fundamentalisten und Ausschnitten aus dem Wahlprogramm der AfD ein, in denen ein veraltetes Rollenbild der Frau postuliert wird. Anschließend beschreibt er den langen Weg vom biblisch geprägten Frauenbild des Mittelalters zur juristischen Gleichberechtigung im Lauf des 20. Jahrhunderts. Dass Geschichte meist alles andere als geradlinig verläuft und Weiterentwicklungen durchaus mit Rückschritten einhergehen können, zeigen unter anderem frühe Bestrebungen zur Gleichberechtigung, die mit den Ideen der Französischen Revolution aufkamen und mit ihr wieder zurückgedrängt wurden.
Ebenso eindrücklich zeichnet Brechtken nach, wie viel Aufwand man vor rund 250 Jahren in die Idee des Nationalismus und die Konstruktion von Staaten investierte. Man beschrieb sie nahezu als Organismen, die den Naturgesetzen unterworfen sind, und verwurzelte ihren Ursprung möglichst tief in der Zeit. »Dabei setzen die Nationalisten bestimmte Annahmen menschlichen Lebens als gegeben voraus, die sie in Wirklichkeit selbst erdacht haben«, schreibt der Autor und schließt später den Bogen zu den derzeitigen populistischen Strömungen in Europa, die ein »politisches Glaubenskonzept« wiederbeleben wollen, das auf einer »historischen Fiktion« beruhe.
Mit wohltuender Nüchternheit und Unaufgeregtheit ordnet Brechtken solche und andere Entwicklungen der Gegenwart durch den Blick in die Geschichte ein. Allein schon herauszustellen, wie frei, selbstbestimmt und sicher wir heute im Vergleich zu früheren Zeiten leben, scheint angesichts aktueller Diskussionen, in denen etwa das Wort »Diktatur« immer wieder fällt, alles andere als überflüssig. Der Historiker legt keine wissenschaftliche Publikation vor, verzichtet weitgehend auf Fachsprache und komplexe Forschungsdiskurse, stattdessen schreibt er sehr zugänglich und über weite Strecken unterhaltsam.
Scheinbar ganz nebenbei führt er nicht nur den Wert der Geschichte, sondern auch den der Geisteswissenschaften vor Augen, die in einer Gegenwart, in der Fortschritt zumeist technologische Innovation meint, schnell unter Rechtfertigungsdruck geraten. Bilder, Grafiken und Statistiken lockern den Inhalt zusätzlich auf. Zur Vertiefung – und dafür bietet das Buch reichlich Anregung – finden sich im hinteren Teil Endnoten, ein umfangreiches Literaturverzeichnis sowie ein Personenregister.
Durchaus inspirierend an der Lektüre ist zudem, dass Brechtken im Rahmen seines pragmatischen Ansatzes nicht nur einen analytischen Blick zurück wirft, sondern auch klar äußert, die Gegenwart bedeute nicht das Ende solcher Entwicklungen. Mit »zehn Lektionen für die Gegenwart«, die er an das Ende des Buchs stellt, fasst er seine Lehren aus der Vergangenheit zusammen. Die erste lautet: »Geschichtsvergessenheit macht blind«.
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