Die Welt ist alles, was der Zufall ist
Aristoteles' Annahme, der Bereich des Zufälligen sei der menschlichen Erkenntnis und damit auch der Wissenschaft per se nicht zugänglich, hat über Jahrhunderte hinweg die Erforschung desselben sinnlos erscheinen lassen. Versuche im Mittelalter, prognostische Gesetze für den Würfelwurf zu finden, mussten mit harmloseren »Cover Stories« (etwa als Überlegung zu Kombinationsschlössern) kaschiert werden, um nicht mit dem staatlichen und kirchlichen Glücksspielverbot zu kollidieren. Und doch war es gerade das Glücksspiel, dass die Zufallsforschung ab der Renaissance initiiert und vorangetrieben hat.
Die Geschichte der Zufallsforschung
Diese hat seither vielfältige Facetten bekommen: Gibt es Zufall überhaupt, oder ist alles vorherbestimmt? Wie lassen sich spezifische Zufälle in unterschiedlichen Systemen (Mathematik, Physik, Kosmologie, Gesellschaft, Spieltheorie) beschreiben und klassifizieren? Lässt sich Zufall erzeugen – oder zumindest ein Pseudozufall, dessen Erzeugungsregeln nicht rückvollziehbar sind? Und wie lassen sich zufällige Ereignisse mathematisch klassifizieren, rechnerisch zähmen und so Prognosen anstellen?
Einigen dieser Themen widmet sich Walter Hehls Buch »Der Zufall in Physik, Informatik und Philosophie«. Hehl ist promovierter Physiker und war bis zu seiner Pensionierung unter anderem bei IBM in der Forschung zur Softwaretechnologie beschäftigt. Vorab sei verraten: Gerade diese Profession hat sich deutlich in das Buch eingeschrieben. Die neun Kapitel widmen sich der Geschichte der Zufallsforschung, verschiedenen Definitionsversuchen von Zufall, wie er in physikalischen, sozialen und technischen Systemen in Erscheinung tritt, welche Auswirkungen zufällige Prozesse haben und schließlich, ob sich aus einer Theorie des Zufalls eine Erklärung der Welt ableiten lässt. Hehls Ansatz ist dabei perspektivisch wie methodisch vielseitig, ohne dabei allzu detailliert zu sein: Mathematische Darstellungen finden sich nur selten. Häufiger sind die Erklärungen mit dem umfangreichen Physikwissen des Autors angereichert.
Im Zentrum seiner Überlegungen stehen zwei grundsätzliche Aspekte: Zum einen greift Hehl durchgängig auf eine Analogie von Mensch und Computer zurück. Diese sieht er sowohl in Hinblick auf Hardware/Gehirn/Körper/Nervensystem als auch auf Software/Denkinhalte/Signale in den Nervenbahnen und Neuronen. Die unzähligen Vergleiche auf etlichen Ebenen beider Systeme führen allerdings selten zu tatsächlichen Erkenntnissen (ganz zu schweigen davon, dass sie aus Sicht von Neurologie, Psychologie und Erkenntnistheorie hochumstritten sind), sondern münden in Tautologien und Kategorienfehler, wie »Die Evolution ist die Entwicklung der Software der Natur bis zu uns. Wir Menschen sind Software, die selbst Software konstruieren kann.«
Hehls zweites theoretisches Grundkonzept versucht die vor allem von Karl Popper vertretene Theorie der »Drei Welten« (materielle Außenwelt, Welt des Bewusstsein und Welt der Gedankeninhalte) auf ein eigenes Kategoriensystem zu übertragen: die Erscheinungen der unbelebten Welt, die sich aus sich selbst entwickelt (Welt 1), alles, was aus einem Bauplan heraus entsteht (Welt 2), und alles, was als Meinung und Gedankeninhalt entsteht (Welt 3). Der Zufall wirkt sich laut Hehl vor allem auf die Welten 1 und 2 aus; Welt 3 sieht er durch diese determiniert – und tritt damit dem alten und immer wieder neu geführten Streit um die Willensfreiheit bei.
Es ist nicht immer einfach, die theoretische Herleitung und letztlich auch die daraus folgenden Ansichten (etwa eines ziemlich strikten Determinismus die Willensfreiheit betreffend) des Autors richtig zu verstehen. Grund dafür sind sowohl der Stil des Buchs als auch sein Aufbau und seine Aufmachung. Hehl schreibt überaus assoziativ – oft ist man sich beim Lesen nicht sicher, woher ein Gedanke, ein Zitat oder sogar ein Bild, das er gerade aufführt, stammt und in welchem Zusammenhang zum Text es steht. Er unternimmt permanent Exkurse, um auf interessante Randphänomene oder Grundlagen hinzuweisen, was eine konsequente Argumentation unmöglich macht. Statt einer solchen liefert Hehl oft bloß Punktelisten mit Begriffen und Zitaten. Das erweckt in einigen Fällen den Eindruck, dass hier alles Mögliche, was mit dem Thema zusammenhängt, additiv aneinandergereiht wird.
Hinzu kommen aus den Originalzusammenhängen gelöste Zitate von Philosophen, Naturwissenschaftlern, Journalisten, Wirtschaftsvertretern, genauen Quellen nicht mehr zuschreibbare Aussagen, Wikipedia- und Webseiten-Texten und nicht zuletzt Aussagen vom Autor selbst. Diese tauchen in Fettschrift zwischen den Absätzen oder mitten im Text als Bildunterschriften mit Quellenangaben auf – und das in unterschiedlichen Schriftarten und -größen. Schon gestalterisch wirkt das Buch damit leider mehr wie eine mit Wikipedia-Bildern dekorierte Stoffsammlung als wie ein zusammenhängender Text.
Es bleibt der Eindruck, Hehl habe mit dem Buch zu vieles unter ein Konzept (das der Zufallsforschung) bringen wollen und dabei den Grundgedanken aus den Augen verloren. Im vorletzten Kapitel, wenn er über Kreativität als Zufallsprozess schreibt und in die Willensfreiheitsdebatte einsteigt, hat man längst den Überblick verloren, was mit Zufall eigentlich (alles) gemeint war. Man hätte sich eine historische und systematische Herleitung des Begriffs gewünscht, die den Pfad für eigene Überlegungen und vielleicht sogar für einen Beitrag zur Willensfreiheitsdebatte abgesteckt hätte. Stattdessen tauchen Namen wie Bernoulli, Laplace, Pascal, Leibniz und andere bedeutende Protagonisten der Geschichte der Stochastik gar nicht, nur am Rande oder mit thematisch ganz anderen Beiträgen auf. Erklärungen zu den zentralen Domänen der aktuellen Zufallsforschung, der Quantenphysik, der Informatik und der philosophischen und soziologischen Kontingenz- und Emergenztheorien hätten den Diskurs des Buches ebenfalls befruchten können.
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