Direkt zum Inhalt

Plädoyer für die »Mischcultur«

Ein promovierter Politikwissenschaftler fordert zur Desintegration auf.

Desintegriert euch! ruft der jüdische Autor Max Czollek, 1987 in Berlin geboren und dort aufgewachsen, nicht nur der jungen jüdischen Szene in Deutschland zu. Denn der promovierte Politikwissenschaftler will nicht mehr beim »Gedächtnistheater« um Holocaust und deutsche Schuld als Vorzeigejude mitspielen, der die richtigen Antworten gibt, um den Deutschen zu bescheinigen, dass sie mit ihrer Vergangenheit angemessen umgehen.

Anhand vieler historischer Bezüge ebenso wie philosophischer Verweise auf Arendt, Butler und viele andere; anhand kultureller Exkurse in Hiphop-, Punk- und andere Bewegungen und natürlich mittels politischer Betrachtungen entwickelt der Autor seine provokanten Thesen. Seiner Ansicht nach ist das deutsche »Gedächtnistheater« nicht etwa gescheitert, weil Rechtspopulisten hierzulande Wahlerfolge hatten. Nein, die deutsche »Dominanzkultur« sei sogar sehr erfolgreich gewesen. Czollek meint, Migranten – woher sie immer kommen – würden aufgefordert, sich in eine Gesellschaft zu integrieren, in der tagtäglich gegen sie Gewaltakte verübt werden, Flüchtlingsheime brennen und der NSU-Terror unzulänglich verfolgt wurde.

Umstrittener Heimatbegriff

Für Czollek hat(te) das »Gedächtnistheater« überhaupt den Sinn, erst die Nationalsozialisten und später ähnlich Eingestellte in die demokratische Gesellschaft zu integrieren. Von hier zieht der Autor eine Linie über Martin Walsers Verdikt über das Berliner Holocaust-Mahnmal als »Monumentalisierung der Schande« 1998 zum heutigen »Heimat-Theater«, das nicht nur die konservativen Parteien aufführten. Besonders fatal erscheint ihm, dass sich dem ökologisch bewegte und linke Parteien anschließen.

Wenn Czollek unter anderem in diese Linie auch jenes berühmte Wort vom Tag der Befreiung des damaligen Bundespräsidenten Richard von Weizsäcker am 8. Mai 1985 einbaut, dann übersieht er freilich, dass daraufhin ein Historiker-Streit ausbrach. In der Tat gibt es bis heute eine innere Auseinandersetzung um die deutsche Geschichte, die die Gesellschaft weiterhin spaltet.

Czollek verweigert sich auch jeglichem Verständnis gegenüber dem Tagesgeschäft der politischen Parteien, die nun mal Wahlen gewinnen müssen. Dass die Erinnerungskultur in den fünfziger Jahren noch kaum vorhanden war, und dass sie sich erst im letzten halben Jahrhundert deutlich intensiviert hat, das gesteht er nicht zu. Der Autor meint, diese Erinnerungskultur führe in eine deutsche Leitkultur, die zu viel Integration verlange. Dabei ist die deutsche Gesellschaft längst eine bunte und vielfältige geworden, in der verschiedenste Lebensformen nebeneinander existieren und in der sich Integration im Wesentlichen darauf beschränkt, die Gesetze und elementaren Umgangsformen zu achten.

In Bezug auf Heinrich von Treitschke, der 1879 vor einer »deutsch-jüdischen Mischcultur« warnte und die Juden zur Assimilation aufrief, plädiert Czollek so provokativ wie leidenschaftlich »für eine Erhaltung dieser 'Mischcultur' in Deutschland«, und – sicher nicht todernst gemeint – für eine jüdisch-muslimische Leitkultur. Gegen die »Flut« aus den »Kloaken« – bewusst dreht er rechtsradikale Ausdrücke um – fordert er eine »Allianz« aller, die eine pluralistische offene Gesellschaft erhalten wollen. Ansonsten befürchtet er, dass diesmal zwar vielleicht erst die Moscheen, aber dann auch wieder die Synagogen brennen.

Zweifellos ein interessantes Plädoyer, wiewohl seine Sprache häufig arg grob ausfällt.

Kennen Sie schon …

Spektrum - Die Woche – 75 Jahre Grundgesetz: »Ein Durchbruch in nur 13 Tagen«

75 Jahre Grundgesetz: Die Historikerin Uta Piereth im Interview über den Verfassungskonvent von Herrenchiemsee, auf dem die Basis für unser Grundgesetz gelegt wurde.

Spektrum Kompakt – Wandernde Tiere

Sie bleiben, bis die Jahreszeit kalt oder die Nahrung knapp wird: Zugvögel zieht es bekanntlich in warme Winterquartiere, doch auch Wale, Elefanten und sogar Plankton wechseln ihre Heimat.

Spektrum Geschichte – Konradin

An der Spitze tausender Ritter wollte ein 15-Jähriger die Stauferdynastie wiederbeleben. Doch Konradins Tod auf dem Richtblock 1268 besiegelte den Untergang des Herrscherhauses und seiner Macht über das Heilige Römische Reich. Das Ende des letzten Staufers bot Stoff für unzählige Legenden.

Schreiben Sie uns!

Beitrag schreiben

Wir freuen uns über Ihre Beiträge zu unseren Artikeln und wünschen Ihnen viel Spaß beim Gedankenaustausch auf unseren Seiten! Bitte beachten Sie dabei unsere Kommentarrichtlinien.

Tragen Sie bitte nur Relevantes zum Thema des jeweiligen Artikels vor, und wahren Sie einen respektvollen Umgangston. Die Redaktion behält sich vor, Zuschriften nicht zu veröffentlichen und Ihre Kommentare redaktionell zu bearbeiten. Die Zuschriften können daher leider nicht immer sofort veröffentlicht werden. Bitte geben Sie einen Namen an und Ihren Zuschriften stets eine aussagekräftige Überschrift, damit bei Onlinediskussionen andere Teilnehmende sich leichter auf Ihre Beiträge beziehen können. Ausgewählte Zuschriften können ohne separate Rücksprache auch in unseren gedruckten und digitalen Magazinen veröffentlicht werden. Vielen Dank!

Partnerinhalte

Bitte erlauben Sie Javascript, um die volle Funktionalität von Spektrum.de zu erhalten.