Fundierte Abhandlung
Rechtschreibung ist ein Aufregerthema. Für die einen steht der Untergang des Abendlands bevor, wenn auf einmal »dass« zu schreiben ist statt »daß«. Die anderen betrachten Orthografie (der Duden empfiehlt aktuell die Schreibweise mit »f«) als eine von wildgewordenen Ärmelschonerträgern erfundene Schikane, die darauf abzielt, unschuldigen Kindern jedwede sprachliche Kreativität auszutreiben. Beide Seiten fühlen sich dazu berufen, ihre Ansichten kundzutun, wobei Sachkunde und Lautstärke nicht selten umgekehrt proportional zueinander sind. Da ist ein Buch wie das von Günther Thomé, derzeit im Institut für sprachliche Bildung Oldenburg engagiert, sehr willkommen. Das Werk beleuchtet die deutsche Orthografie unter historischen, systematischen und didaktischen Gesichtspunkten, wobei der Schwerpunkt auf der Didaktik liegt. Dabei berücksichtigt der Autor nur die Wortschreibung – eine vernünftige Beschränkung. Um es vorweg zu nehmen: Wer auf eine schmissige Streitschrift für oder wider die reformierte Rechtschreibung hofft, kann sich die Lektüre sparen. Wer hingegen an echtem Verständnis interessiert ist, sollte unbedingt zugreifen.
Das erste Kapitel befasst sich mit Entwicklung und Funktionsweise diverser Schriftsysteme, von sumerischer Keilschrift bis zum modernen Japanisch. Wer die deutsche Rechtschreibung für schwierig hielt, wird seine Meinung hier umgehend ändern. Vor allem aber zeigt sich, dass nicht jede Sprache gleichermaßen für jede Schrift geeignet ist und umgekehrt. Eine Silbenschrift beispielsweise wäre für das Deutsche völlig fehl am Platze. Der Autor bereitet seine Leser sanft auf die Erkenntnis vor, dass eine Orthografie, die auf phonetisch exakte Wiedergabe der gesprochenen Sprache zielt, weder nötig noch wünschenswert ist. Die Schriftsprache sei, wie er erfreulich deutlich schreibt, ein Konstrukt, das einem bestimmten Zweck diene. Nämlich dem, »mit vielen Menschen, die über ein großes Gebiet verteilt wohnen, möglichst eindeutig kommunizieren zu können«, und zwar auch über Dialekt- und Soziolektgrenzen hinweg.
Sprechen ist nicht gleich Schreiben
Das gern zitierte Postulat des Germanisten Johann Christoph Adelung (1732-1806), »Schreib, wie du sprichst«, ist somit allenfalls akzeptabel, wenn man mit Adelung fortfährt: »...der allgemeinen besten hochdeutschen Aussprache gemäß«. Eine solche »Vereinfachung« wäre also nur um den Preis zu haben, dass in der Schule statt Rechtschreib- nunmehr Rechtsprechunterricht auf dem Lehrplan stünde. Das fände bei der »Orthografie-ist-Repression«-Fraktion vermutlich wenig Anklang. Adelungs Postulat ist, wie Thomé überzeugend darlegt, »mit größter Zurückhaltung zu bewerten«.
In einem zweiten Schritt zeichnet der Autor die Entstehung der (neuhoch)deutschen Schriftsprache und Orthografie nach sowie die Diskussionen, die sich darum ranken. Thomé arbeitet klar die Prinzipien heraus, nach denen sie funktioniert: nämlich nicht nur nach der Lautung, sondern auch nach dem Prinzip der Morphemkonstanz. Deshalb schreiben wir »Hund-Hunde« und »Wald-Wälder« und nicht »Hunt-Hunde« beziehungsweise »Walt-Welder«. Zudem spielt für die Schriftsprache das Prinzip der Homonym-Unterscheidung eine Rolle, das dafür sorgt, dass wir zwischen »Seite« und »Saite« differenzieren, obwohl die Aussprache in den meisten zeitgenössischen deutschen Dialekten identisch ist.
Entsprechen einem Phonem unterschiedliche Grapheme, etwa einem /i:/ die Schreibungen »i« wie in »Igel«, »ie« wie in »viel«, »ih« wie in »ihr« oder »ieh« wie in »Vieh«, dann ist das laut Thomé zwar eine Erschwernis für das Schreiben, für das Lesen aber ein deutlicher Komfort. Eine wichtige Überlegung, die seinerzeit in der Diskussion um die Rechtschreibreform oft zu kurz kam. Eine statistische Auswertung zu Phonem-Graphem-Beziehungen im Kernwortschatz, die der Autor in Tabellenform präsentiert, macht obendrein begreiflich, dass die deutsche Rechtschreibung wesentlich vorhersagbarer ist, als viele suggerieren, jedenfalls mit Blick auf den deutschen Basiswortschatz.
Schwierige Schriftvermittlung
Im dritten Kapitel schließlich zieht der Autor aus den zuvor angestellten Überlegungen seine didaktischen Schlüsse, erstellt Fehlertypologien und verhilft dem häufigsten und am wenigsten bewusst wahrgenommenen deutschen Vokal /ǝ/, der durchgehend »e« geschrieben wird wie in »Hase«, zu seinem Recht. Dabei zeigt er, wie problematisch gängige Methoden der Schriftvermittlung, beispielsweise nach Anlauttabellen, sind. So sei es wenig sinnvoll, den Buchstaben »i« mit dem »Igel« einzuführen, denn die Schreibung eines /i:/ als »i« sei viel seltener denn als »ie«. Er spricht sich dafür aus, konsequent statt mit Buchstaben mit Basisgraphemen zu beginnen, und wer seinen Ausführungen bis hierher gefolgt ist, hat keine Schwierigkeiten mehr, etwa auch »ie« als Basisgraphem zu akzeptieren – denn Thomé hat bereits schlüssig erklärt, wieso es unverzichtbar ist, zwischen Buchstabe, Graphem, Laut und Phonem zu unterscheiden.
Für Sprachwissenschaftler sind derlei Unterscheidungen sicherlich Erstsemesterstoff, aber da das Buch sich durchaus an ein breiteres Publikum wendet, ist es keineswegs überflüssig, sie noch einmal zu verdeutlichen. Positiv sticht heraus, dass der Autor das Fachvokabular nicht zum Wissenschaftsjargon verkommen lässt, sondern für den Gang seiner Argumentation tatsächlich fruchtbar macht. Es ist überhaupt eine Stärke des Buchs, Fachtermini nur dort einzusetzen, wo sie sachdienlich erscheinen, und auch das erst nach einer gut verständlichen Einführung.
Alles in allem legt Thomé eine gut lesbare, kurze, aber dennoch fundierte Bilanz seiner langjährigen Beschäftigung mit deutscher Orthografie und ihrer didaktischen Vermittlung vor. Man möchte sie nicht nur Grundschulpädagogen ans Herz legen, sondern allen, die ihre Muttersprache nicht bloß nutzen, sondern auch deren schriftsprachliche Funktionsweise verstehen wollen. Wer sich anschließend immer noch über »dass« statt »daß« aufregen will, kann das zwar tun, wird sich aber bessere Argumente überlegen müssen als zuvor.
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