Kreuz und quer durch den Kosmos
Von der modernen Physik erwarten wir Antworten auf Fragen, die traditionell ins Ressort der Philosophie gehört haben: Warum ist überhaupt etwas vorhanden? Hat die Welt einen Anfang und ein Ende? Aus welchen fundamentalen Komponenten setzt sich die Natur zusammen? Wo ist unser Platz im Universum? Der promovierte Teilchenphysiker Ilja Bohnet hat sich aufgemacht, Spitzenforscher aus dem deutschsprachigen Raum mit solchen Fragen zu konfrontieren. Aus fast 100 Gesprächen setzt er ein buntes Panorama des heutigen Wissenstands zusammen.
Vom ganz Kleinen zum ganz Großen
Das Glas der empirischen Wissenschaft ist stets zugleich halb voll und halb leer. Die Physiker wissen heute mehr als je über den Zoo der fundamentalen Teilchen und über die Beschaffenheit des Universums – aber mit jeder neuen Entdeckung wird auch der Katalog offener Fragen länger. So liefert das vorliegende Buch die aktuelle Momentaufnahme eines niemals abgeschlossenen Prozesses. Einerseits ist das Glas der Grundlagenphysik halb leer: Der mächtigste Teilchenbeschleuniger, der Large Hadron Collider (LHC) bei Genf, liefert bisher keine Indizien für die von einigen Theoretikern ersehnte Supersymmetrie der fundamentalen Partikel. Momentan gibt es viele hypothetische Modelle eines erweiterten Teilchenzoos sowie Unmengen von empirischen Daten, jedoch noch keine schlüssige »neue Physik« jenseits des Standardmodells der Elementarteilchen. Insofern herrscht unter theoretischen Teilchenphysikern ein gewisser Katzenjammer, wie ihn etwa Sabine Hossenfelder in ihrem erfolgreichen Buch »Das hässliche Universum« kürzlich zum Ausdruck brachte.
Andererseits hat der LHC mit dem Nachweis des Higgs-Bosons einen wichtigen Baustein des Standardmodells geliefert und damit die Forscher in der Überzeugung bestärkt, auf dem richtigen Weg zu sein. Die große Stärke von Bohnets Buch sind die Forschungsberichte aus der Sphäre knapp oberhalb der tiefsten Fragen. In diesem Bereich ist von Katzenjammer keine Rede; hier herrschen lebhafter Betrieb und fröhlicher Optimismus.
Eine große Rolle spielen dabei numerische Modelle, die mit der Leistung moderner Computer immer aussagekräftiger werden. Damit lassen sich etwa Turbulenzen in extremen Materiezuständen bändigen. Die Plasmaphysik klärt nicht nur die Fusionsprozesse im Inneren von stellaren Objekten auf, sondern rückt auch die technische Beherrschung solcher Vorgänge mittels Fusionskraftwerken allmählich in greifbare Nähe.
Atemberaubend sind zudem die Fortschritte in der physikalische Chemie. Seit Kurzem ist es möglich, die Bildung von Molekülen in billiardstel oder gar trillionstel Sekunden aufzulösen, also quasi in extremer Zeitlupe zu filmen.
Vor allem bei kosmologischen Grundfragen wachsen mit jedem Erkenntnisgewinn jedoch die Fragen. Noch immer ist unklar, warum beim Urknall mehr Materie als Antimaterie entstand und somit, warum überhaupt etwas da ist – und nicht vielmehr nichts. Noch dazu ist die meiste Materie »dunkel«, das heißt massig und schwer, aber unsichtbar. Und obendrein treibt eine rätselhafte Dunkle Energie das All beschleunigt auseinander. Wie im kosmischen Maßstab verhält es sich auch bei den fundamentalen Teilchen: viele theoretische Modelle, aber noch zu wenig empirische Fundierung.
Doch davon lassen sich die Forscher ihren Optimismus nicht rauben. Bohnet zitiert den Theoretiker Martin Pohl vom Deutschen Elektronensynchrotron DESY, für den Dunkle Energie ein echtes Rätsel ist, das ihn aber nicht verzweifeln lässt. Pohl beruft sich auf den Astronomen Johannes Kepler, der im 17. Jahrhundert drei einfache Regeln für die Planetenbahnen aufstellte, ohne einen physikalischen Grund dafür angeben zu können. Den lieferte erst Isaac Newton 100 Jahre später mit seinem Gravitationsgesetz. »Genau so etwas kann uns heute mit der Dunklen Energie passieren – obwohl die Gemengelage mathematisch und physikalisch etwas komplexer sein mag«, meint der Forscher.
Bohnet präsentiert mit seiner Gesprächscollage so ziemlich das Gegenteil eines Lehrbuchs. Zwar bemüht er sich, den Leser am Rand der Interviews mit Hintergrundinformationen über das jeweilige Thema auf dem Laufenden zu halten, doch ohne physikalische Vorkenntnisse versteht man wohl oft nur Bahnhof. Auch ist das Organisationsprinzip des Ganzen nicht recht einsichtig. Bohnet dreht zwei Runden vom physikalisch Kleinsten zum Größten, und dabei kommen manche Themen – etwa die Frage, ob und wie Materie Bewusstsein zu entwickeln vermag – mehrmals zur Sprache.
Eine Frage beantwortet der Autor erst ganz zum Schluss: warum 42 Rätsel? Die Antwort findet sich in »Per Anhalter durch die Galaxis« von Douglas Adams. In dem beliebten Sciencefiction-Roman benötigt ein Supercomputer Jahrmillionen, um die tiefsten Rätsel zu lösen, und am Ende lautet der ersehnte Output »42«. Dieser Scherz passt gut zur Quintessenz des Buchs: Die Naturwissenschaft liefert auf grundlegende Fragen immer nur vorläufige, aber überraschende Antworten.
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