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Den Ekel zulassen

Die antike Literatur strotzt vor frauenfeindlichen Darstellungen und politisch inkorrekten Inhalten. Die Kieler Altphilologin Katharina Wesselmann wirft einen neuen, feministischen Blick auf alte Texte.

Im Zeitalter von #MeToo und Diversity werden kulturelle Inhalte vielfach neu gelesen und bewertet. Den altsprachlichen Unterricht betrifft das in hohem Maße: In antiken Texten wimmelt es von sexueller Gewalt, Frauenfeindlichkeit und Diskriminierung. Verfasst wurden diese fast ausschließlich von Männern. Diese »literarische Maskulinisierung« ging offenbar mit der Verharmlosung und Billigung von sexueller Gewalt einher, was auf heutige Leser verstörend wirkt. Der Raub der Sabinerinnen wird in der römischen Geschichtsschreibung als notwendiger Akt der Staatsräson beschrieben, um den Fortbestand des römischen Staats zu sichern. Und beim römischen Komödiendichter Terenz wird die Eheschließung von Vergewaltiger und Opfer als Happy End geschildert.

Wie mit antiker Kultur umgehen?

Wie sollte man also im Schulunterricht mit einer Kultur umgehen, die Frauen als Besitz ansah und sexuelle Gewalt gesellschaftlich legitimierte? Diese Frage stellt sich Katharina Wesselmann, Professorin für Fachdidaktik der Alten Sprachen an der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel, im vorliegenden Buch.

Ausgehend von dem Tatbestand, dass männliche Dominanz und sexuelle Gewalt gegen Frauen die kulturelle DNA der Antike prägten, führt die Autorin in eine patriarchalisch geprägte Welt der antiken Machos. In dieser waren Frauen keine selbstständig handelnden Personen, sondern ausschließlich über die Beziehungen zu ihren Männern definiert, wie die Autorin im Kapitel »Erzählte Frauen« zeigt.

Ob die Sklavin Briseis oder die treue Penelope, Gattin des Odysseus, stets sind die erzählten Frauen Projektionen der erzählenden Männer mit fest zugewiesenen Geschlechterrollen: Erstere als weibliches Streitobjekt männlicher Besitzansprüche (zwischen Achilles und Agamemnon), letztere als Heimchen am Herd.

Frauen gehörten in der antiken Männerwelt nicht in die Öffentlichkeit, wie die Autorin anhand zahlreicher Beispiele nachweist. Wer sich exponierte, wurde ausgegrenzt und dämonisiert. In Sophokles' Drama »Antigone« wird der Protagonistin ihr Eintreten in die männliche Dominanzsphäre Politik zum Verhängnis. Und die ägyptische Herrscherin Kleopatra wird von den antiken Geschichtsschreibern als unnatürlich und monströs porträtiert.

Im Kapitel »Stumme Schreie – mundtote Opfer« widmet sich Wesselmann den Opfern sexueller Gewalt. Sie zeigt eine aus heutiger Sicht machoide Kultur, welche die männlichen Vergewaltiger von jeder Verantwortung freispricht und den geschändeten weiblichen Körper als vermindert und einer richtigen Ehe mit niemandem mehr würdig ansieht. Sozial geächtet und zum Schweigen gezwungen, blieb den »mundtot gemachten Vergewaltigungsopfern« als letzter Ausweg der Selbstmord, wollten sie ihre Ehre bewahren.

Auffällig in den antiken Texten, so Wesselmann, sei eine geradezu abstoßende »Ästhetisierung sexueller Gewalt«, die vor allem in den »Metamorphosen« des Ovid, im Zuge von #MeToo auch als »Handbuch der Vergewaltigung« bezeichnet, in besonders drastischer Weise und Häufung hervortritt.

»Die abgetrennte Zunge« ist ein sehr lesenswertes und intelligent geschriebenes Buch, in dem die Autorin ein bislang vornehmlich auf akademische Kreise beschränktes Forschungsfeld für ein breiteres Publikum erschließt. Anders als viele identitäre Bewegungen, die Geschichte mit modernen Wertvorstellungen interpretieren, ohne sich in die jeweilige Epoche und deren Denkweisen hineinzuversetzen, unterliegt Wesselmann dieser selbstgerechten Urteilsweise nicht. Sie versucht vielmehr, »zeitgenössische Erscheinungen in ihre Traditionen einzuordnen« und antike und heutige Perspektiven als konträre Narrative zu begreifen.

Die Autorin liest – wie im Untertitel des Buchs beschrieben – »Sex und Macht in der Antike neu«. Vielleicht liegt ja genau darin eine Chance, die verblühenden Orchideenfächer Latein und Altgriechisch in ein lebendiges, kontroverses Forschungsfeld zu verwandeln.

Anm. d. Red.: Im letzten Absatz wurde eine Aussage der Autorin Katharina Wesselmann vom Rezensenten übernommen, aber nicht als Zitat kenntlich gemacht. Wir haben die Passage nun korrigiert und bitten um Entschuldigung.

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