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Kindheitstrauma Kur

Die Aufarbeitung von Missbrauch in Erholungsheimen beginnt erst langsam. Das Buch trägt einen wichtigen Teil dazu bei.

Den Teller auf jeden Fall leer essen zu müssen und notfalls auch das anschließend Erbrochene, die Verabreichung von Medikamenten ohne medizinische Notwendigkeit, körperliche Bestrafung und ein Drillsystem, das aus Kindern Nummern macht. Das alles sind schreckliche Beispiele für physischen und psychischen Missbrauch – und Aussagen ehemaliger Teilnehmerinnen und Teilnehmer von Kinderkuren in den 1940er bis 1980er Jahren.

Trauma statt Genesung | Millionen Kinder wurden in den 1940er bis 1980er Jahren zur Kur geschickt. Manche prägen die Erfahrungen dort bis heute.

Solchen Berichten geht die Historikerin und Journalistin Hilke Lorenz in ihrem Buch nach. Dabei hinterfragt sie sowohl den Sinn und die Geschichte solcher Kuren, die wirtschaftlichen Hintergründe bei der so genannten Kinderverschickung als auch die Umstände der Taten. Vor allem lässt sie anonymisiert Betroffene zu Wort kommen, deren Erlebnisse diese zum Teil bis heute prägen.

Früher Boom von Kinderkuren

Lorenz schildert ein regelrechtes System der Kur­verschickungen. Die historischen Wurzeln reichen bis in die Zeit der Industrialisierung. Das Angebot richtete sich vor allem an städtische Kinder und hatte durchaus ehrenwerte therapeutische Motive. Von Lungenheil­anstalten über Sol- und Seebäder bis hin zu Tageserholungsstätten standen schon 1906 im Kaiserreich mehr als 60 000 Plätze zur Verfügung. Sechs Jahrzehnte später kamen allein Baden-Württemberg, Nordrhein-Westfalen und Bayern auf über 40 000 Plätze. Lorenz zeigt die wirtschaftlichen Interessen auf, etwa dass Kinderärzte an den Kurverschreibungen mitverdienten.

Häufig wurde den Kindern suggeriert, sie würden in den Urlaub fahren oder »die schönste Reise ihres Lebens« antreten. Angesichts der Millionen Kinder, die zwischen den 1940er und 1980er Jahren in Westdeutschland zu einer vierstelligen Zahl an Kurheimen geschickt wurden, wird es oft so gewesen sein. Doch es gab auch die dunkle Seite, die Lorenz in ihrem Buch thematisiert. Dabei bemüht sie sich, bei der Aufarbeitung viele Faktoren im Blick zu behalten. Beispielsweise widmet sie dem nationalsozialistischen Erbe der Kurheime ein ganzes Kapitel. Bis in die 1970er Jahre hinein war das Personal der Einrichtungen oft geprägt von der NS-Diktatur. Zu dessen Erziehungsideal gehörte die Brechung von Individualität, um Kinder zum Wohle von »Volk und Staat« in die propagierte völkische Gemeinschaft einzugliedern.

Aufarbeitung der Geschichte

Der Fokus auf Kinderkuren ist in der gesellschaftlichen Diskussion in Deutschland recht neu. Doch die Hintergründe erinnern an die schwierige Aufarbeitung von Missbrauchsfällen in Kirche und Schule. Es geht wieder einmal um institutionalisierte Machtgefälle, Autoritätsgläubigkeit, missbrauchtes Vertrauen, die Frage nach Kinderrechten, pädagogischen Konzepten und externen Kontrollen. Die Haltung der damaligen und heutigen Träger von Kinderkureinrichtungen müssen dabei ebenso thematisiert werden wie das Mitmachen, Wegschauen oder manchmal auch Aufbegehren des Personals. So schildert Lorenz unter anderem einige Beispiele, bei denen insbesondere jüngere Erzieherinnen und Erzieher seit den 1970er Jahren die rigiden Verhaltensregeln und Strafsanktionen missachteten oder Spiel- und Bastelsachen von zu Hause mitbrachten, wenn es diese in der Einrichtung nicht gab.

Dass die Autorin aus Sicht der Opfer berichtet, ist legitim, um ihnen nach langem Schweigen oder Nicht-gehört-Werden eine Stimme zu geben. Es ist allerdings ebenso dem Problem geschuldet, dass manche Kureinrichtung inzwischen nicht mehr existiert, dass die Träger gewechselt haben oder das damalige Personal bereits verstorben ist. Ebenfalls kann die Einschätzung von Eltern, die ihre Kinder guten Gewissens in die Kuren geschickt haben, häufig nicht mehr eingeholt werden. Ein Blick in Akten und Archive bleibt unerlässlich. Einige Archive und Internetseiten listet die Autorin am Ende des Buchs auf.

Lorenz legt mit »Die Akte Verschickungskinder« ein Sachbuch vor, das betroffen macht. Und das verdeutlicht, wie wichtig es ist, sich mit Missbrauch und Misshandlung auch in diesem Kapitel der deutschen Geschichte auseinanderzusetzen. Die Aufarbeitung beginnt gerade erst – und das Buch liefert einen wichtigen Beitrag dazu. Es wendet sich an pädagogisch und historisch interessierte Leserinnen und Leser sowie Betroffene. Letzteren will es Mut machen, sich mit ihren Erlebnissen zu befassen und sich mit anderen zu vernetzen. Gleichzeitig appelliert es an die Ver­antwortung heutiger und damaliger Träger von Kur­heimen. Das Werk zeigt auf eindrückliche Weise einmal mehr, wohin die Ausnutzung von Macht- und Ver­trauensverhältnissen sowie Autoritätsglauben führen können.

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