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Buchkritik zu »Die Alpen«

Die moderne Nutzung in der Industrie- und Dienstleistungsgesellschaft gefährdet die ökologische Stabilität und biologische Vielfalt des hochsensiblen Lebensraums Alpen. Die Rückkehr zur vorindustriellen Gesellschaft ist undenkbar. Ziel ist daher, die modernen Wirtschafts-, Lebens- und Kulturformen mit traditionellen Erfahrungen zu einem langfristig tragfähigen Gesamtkonzept zu verbinden. Mit diesem Buch leistet Werner Bätzing, Professor für Kulturgeografie an der Universität Erlangen-Nürnberg, seinen Beitrag dazu.

Nur zu Beginn des ersten Kapitels "Die Alpen im Agrarzeitalter" beschäftigt sich der Autor mit der physischen Geografie: Klima, Vegetation und Geologie. Danach dominieren durchwegs human- und kulturgeografische Themen, abgehandelt in strikt chronologischer Folge. Bätzing schreibt über die ersten Bauerngesellschaften, die aus dem Orient kommend um 5500 v. Chr. den Südwestrand der Alpen erreichten, die Bronzezeit mit ihrem starken Wirtschaftsaufschwung, die Eisenzeit und Einflüsse der Römer wie etwa Weinanbau und ein gut ausgebautes Straßennetz.

Mit dem Zerfall des Römischen Reiches im 5. Jahrhundert entvölkerten sich die Alpen; erst um das Jahr 1000 setzte der hochmittelalterliche Siedlungsausbau ein, eine Umgestaltungsphase, die in ihrer Dynamik nur noch mit der industriellen Revolution im 19. Jahrhundert vergleichbar ist. Voraussetzungen hierfür waren die politische Konsolidierung Europas nach den militärischen Siegen über die Ungarn und Sarazenen sowie eine sig---nifikante Klimaerwärmung. Damals entstand jene traditionelle Welt im Alpenraum, die erst im 20. Jahrhundert untergegangen ist.

Die folgenden zwei Kapitel behandeln diesen Untergang und den darauf folgenden großen Strukturwandel – der sich sehr ungleichmäßig ausprägt, da der Alpenraum in den verschiedenen Anrainerstaaten einen sehr unterschiedlichen politischen, wirtschaftlichen, kulturellen und mentalen Stellenwert hat.

In föderalistischen Staaten wie der Schweiz oder Österreich haben periphere Räume in der nationalen Politik eine erhebliche Bedeutung, was sich in vergleichsweise guten Fördermaßnahmen und geringen räumlichen Disparitäten niederschlägt. Im eigentlich zentralistischen Freistaat Bayern spielen die Alpen eine wichtige Rolle für das Selbstbild des modernen Bayern mit "Laptop und Lederhose". So kommt es, dass die bayerischen Alpen der mit Abstand am stärksten durch flächenhafte Übernutzung geprägte Teilraum sind: Sein Bevölkerungswachstum wird lediglich von den Zwergstaaten Monaco und Liechtenstein übertroffen.

Zentralistische Staaten wie Italien und Frankreich dagegen tendieren dazu, die Alpen als monofunktionalen "Ergänzungsraum" zu sehen, vor 1945 zur militärischen Grenzsicherung, danach für Frei--zeit und Erholung. In Italien haben sich traditionelle Strukturen noch am stärksten erhalten, wenn auch in überalterten und erstarrten Formen. Nicht zufällig findet hier zurzeit die größte Entsiedlung statt. Frankreich dagegen hat seit der Verabschiedung des Berggebietsgesetzes 1985 die Trendumkehr geschafft: Seit gut 20 Jahren wächst in seinen Alpenregionen die Bevölkerung wieder erheblich an.

Im abschließenden Abschnitt entwickelt der Autor seine Leitidee der "ausgewogenen Doppelnutzung": Eine nachhaltige Zukunft ist nur realisierbar, wenn die Alpen sich weder von Europa abschotten noch in die Einzugsbereiche der einzelnen Großstädte zerfallen, sondern ein eigenständiger und multifunktionaler Lebens- und Wirtschaftsraum bleiben oder wieder werden. Hilfreich bei der Umsetzung dieser Idee wäre die Alpenkonvention oder die EU-Gemeinschaftsinitiative Interreg III, die der Förderung der großräumigen transnationalen Zusammenarbeit dient. Die Fortsetzung der gegenwärtigen Wirtschaftsweise würde die ökologischen und kulturellen Grundlagen des Alpenraums zerstören.

Es bleibt zu hoffen, dass möglichst viele aktuelle und zukünftige Entscheidungsträger dieses äußerst empfehlenswerte Buch lesen und sich zu Herzen nehmen.
  • Quellen
Spektrum der Wissenschaft 8/2004

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