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Buchkritik zu »Die andere Evolution«

Lynn Margulis, Professorin für Biologie, Trägerin zahlreicher wissenschaftlicher Auszeichnungen und Autorin mehrerer Bücher, ist bekannt für ihre Bereitschaft, jegliche Erkenntnisse kritisch zu hinterfragen und sich mit ihren häufig unkonventionellen Theorien ins Kreuzfeuer der Kritik zu begeben. In ihrem neuen Buch stellt sie ihre bisher wichtigsten wissenschaftlichen Arbeiten zur Evolutionsforschung vor. Darüber hinaus gewährt sie dem Leser einen Einblick in ihr eigenes Leben als Wissenschaftlerin, lässt ihn an ihren persönlichen Erfolgen und Fehlschlägen teilhaben, sodass dieses Buch eine sehr persönliche Note besitzt. Es geht um die Evolution des Lebens, und das bedeutet aus dem Blickwinkel der Autorin im Wesentlichen die Entwicklung von Symbiosen. Nur durch sie können nach der Vorstellung von Lynn Margulis neue Arten entstehen. "Wir bleiben symbiontische Wesen auf einem symbiontischen Planeten." Symbiosen sind Lebensgemeinschaften von Organismen verschiedener Arten, die dem gegenseitigen Nutzen dienen. Aus einer dauerhaften Symbiose, deren Partner Bakterien waren, entstanden die ersten Zellen mit einem echten Zellkern, der entscheidende Schritt in der Evolution des heutigen Lebens. Alle Lebewesen dieser Erde, die aus Zellen mit Zellkern bestehen, einschließlich uns Menschen, stammen von Bakterien ab; das mag nicht jedem behagen, doch die Beweise sind eindeutig. Welche Bakterien waren beteiligt, wie sah diese Symbiose aus, welches Szenario ereignete sich damals vor vielleicht 2 Milliarden Jahren? Die Antworten auf diese Fragen liefert die Autorin mit ihrer "Seriellen Endosymbiontentheorie", (SET) im zweiten Kapitel. Die SET wird heute in ihren Grundzügen allgemein akzeptiert; die überarbeitete Version der Autorin ist jedoch heftig umstritten. Sind die kleinen Fortsätze an Zellen, die der Fortbewegung dienen (zum Beispiel die Geißeln männlicher Samenzellen), ebenfalls aus einer Symbiose zweier verschiedener Bakterienarten hervorgegangen? Lynn Margulis vertritt diese Auffassung mit Vehemenz und versucht bis heute, den endgültigen Nachweis zu erbringen. Sie gibt jedoch unumwunden zu, dass ihr das misslingen könnte. So ist zwar heute bekannt, wie das Leben auf unserem Planeten entstand, aber woher die erste Zelle kam, ist nach wie vor eines der großen Geheimnisse. Im fünften Kapitel erzählt die Autorin von eindrucksvollen Experimenten, die einer kriminalistischen Spurensuche gleichen. In Laborexperimenten konnten aus einer Ursuppe, die aus nichts als Wasser, Ammoniak und Methan bestand, unter Energiezufuhr einige Aminosäuren, Bestandteile der Proteine, hergestellt werden. Auch konnte gezeigt werden, dass RNA-Moleküle die ersten sich selbst erhaltenden Molekülformen sind. Aber wie gelangten solche Moleküle in eine membranumhüllte Zelle? Sicher ist nur, dass außerhalb einer schützenden Zellmembran kein Leben bestehen konnte. Lynn Margulis hat ein spannendes Buch geschrieben. Sie erweckt den Eindruck, dass nicht der Zufall, sondern bestimmte Gesetzmäßigkeiten, hier vor allem die von ihr postulierte Symbiogenese, das heute anzutreffende Leben bestimmten. Dies wird besonders im letzten Kapitel deutlich, in welchem sie die Gaia-Theorie vorstellt. Demnach ist die Erde mit all ihren Lebensformen ein sich selbst regulierendes System, und keine noch so große Katastrophe kann diesem System dauerhaft schaden. Ob sie darin Recht behalten kann, wird erst die Zukunft zeigen. Nicht alle Kapitel sind gleich eindrucksvoll. Streckenweise kann man sich des Eindrucks nicht erwehren, dass die Autorin ihre persönlichen Ambitionen zu sehr in den Vordergrund stellt. So vertritt sie bei der Systematisierung aller Lebewesen im vierten Kapitel einseitig und zu dogmatisch ihre eigenen Theorien. Trotz aller Subjektivität bietet dieses Buch eine Fülle von Informationen und stellt viele bekannte und weniger bekannte Persönlichkeiten aus den Naturwissenschaften vor. Auch deshalb liest es sich nicht nur wie ein Überblick über den derzeitigen Forschungsstand, sondern auch wie ein durchaus gelungener Rückblick auf mehr als hundert Jahre Evolutionsforschung.
  • Quellen
Spektrum der Wissenschaft 11/00

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