Missratene Tochter der Vernunft
Tilman Steiner scheint ein äußerst vielseitiger Geist zu sein. Der Klappentext seines Buchs verrät uns seine Tätigkeit als Jurist, Hochschullehrer und Journalist. Steiner produzierte eine Vielzahl von Dokumentationen und Fernsehbeiträgen, war Moderator und ist darüber hinaus Vorsitzender des Verbandsgerichts des Bayerischen Journalistenverbandes. Als Autor ist er bisher wenig in Erscheinung getreten. Umso überraschender, dass er mit "Die Anschauung der Welt" quasi aus dem Stand ein zirka 500 Seiten starkes Buch vorlegt, das offenbar die Summe seines Nachdenkens über Natur und Evolution widerspiegelt.
Bezüglich der Frage, wie sich Leben und Bewusstsein entwickelt haben, geht Steiner von zwei zentralen Thesen aus. Zum einen behauptet er, die Welt sei fraktal organisiert, behalte beim Ändern der Skalierung also ihre wesentlichen Eigenschaften bei (Selbstähnlichkeit). Dabei stützt er sich auf den Physiker und Nobelpreisträger Gerd Binnig und dessen Buch "Aus dem Nichts" (1989). Zum anderen sieht er in der Evolution vier fundamentale Prinzipien verwirklicht, die er als Kreativität, Polarität, Attraktivität und Reflexion bezeichnet. Wenn der Verlag schreibt, dass der Autor damit "ein faszinierend neues Modell zur Entstehung unserer Existenz" entworfen habe, ist das ein wenig übertrieben, denn es findet sich bereits in vielfachen Abwandlungen bei anderen Autoren. Explizit ausgearbeitet lässt sich ein verwandtes Konzept beispielsweise in dem Buch "Eros, Logos, Kosmos" des amerikanischen Philosophen Ken Wilber (1996) nachlesen. Die Polarität heißt dort allerdings "Agenz" und die Attraktivität "Kommunion".
Zu schnell für die Natur
Wenn Steiner das Kreativitätsprinzip beschreibt und dabei einen kurzen Streifzug durch Physik (Materieentstehung) und Evolutionsbiologie (Entstehung des Lebens) unternimmt, stellt er fest, dass "Kreativität fälschlicherweise fast überall nur als Eigenschaft der Menschen benutzt und erkannt wird", obwohl sie doch "schon in aller Kreatur" stecke. Er weist darauf hin, "dass jedem auch noch so kleinen kreativen Entwicklungsschritt ein entsprechender folgt, der ihn ausbalanciert." Damit, so der Autor, würde zugleich eine Gefahr der Gentechnik offensichtlich. Die Balance könne nämlich nur entstehen, wenn sich die betroffenen Organismen in Koevolution gegenseitig austarierten. Das aber brauche Zeit, die die Natur bei plötzlich in die Umwelt eingebrachten genetischen Modifikationen nicht habe.
Jetzt ist Steiner auch schon beim aus seiner Sicht nächsten fundamentalen Organisationsprinzip der Natur: der Polarität. Denn so wie "das Kreativitätsprinzip Schubkraft oder Motor der Evolution ist, so ist das Prinzip der Polarität der umfassendste Ausdruck der Koevolution, nach der allem ein interagierender Partner zuwächst." Und auch hier wieder galoppiert der Autor durch die Natur- und Geisteswissenschaften, und an dieser Stelle fragt man sich als Leser das erste Mal, ob sich das alles nicht ein wenig konziser sagen ließe. Darüber hinaus ist es schade, dass Steiner durchaus kontroverse Begriffe und Theorien aus den Wissenschaften übernimmt (etwa "Emergenz"), ohne sie einer kritischen Befragung zu unterziehen. Denn gerade in einer solchen skeptischen Auseinandersetzung läge viel Potenzial für die weitere Vertiefung seiner Annahmen.
Komplementär verbunden mit der Polarität ist das Prinzip der Attraktivität. Laut Steiner ist Attraktivität "das Zauberwort für alle evolutionären Prozesse. Diese steuern auf die Ausgewogenheit in der scheinbar toten Welt von chemischen und physikalischen Vorgängen (...) hin."
Fraktal oder emergent?
Das Kapitel zur Entstehung des Bewusstseins präsentiert einmal mehr zahlreiche Erkenntnisse aus Biologie, Hirnforschung und Psychologie. Dabei meint der Autor etwas kryptisch, dass "die Naturwissenschaften sich bei allen unterschiedlichen Ansätzen und Ergebnissen zwar in der Erkenntnis der Evolutionsphasen stabilisieren, die letzten Antworten aber nicht liefern." Wenn er an anderer Stelle schreibt, "das Bewusstsein scheint nach allem, was wir über die Emergenz im Rahmen des Kreativitätsprinzips erfahren, einem Heureka gleich in die Welt gekommen zu sein", zeigt sich allerdings ein Problem. Wenn man, wie der Autor, davon ausgeht, das Bewusstsein sei durch einen emergenten Schub ins Dasein getreten, während man gleichzeitig dem fraktalen Organisationsprinzip der Natur anhängt, gerät man in Widersprüche. Da in einer durch und durch fraktal organisierten Welt auch das Bewusstsein von Beginn an da gewesen sein muss, kann es nicht erst durch Emergenz entstehen.
Wer bis hierhin durchgehalten hat, wird am Ende mit dem wohl stärksten Teil des Buches belohnt, wenn der Autor sich zur "Unvernunft der Rationalität" äußert und sie als eine "missratene Tochter der Vernunft" bezeichnet. Hier macht er auf alle Probleme aufmerksam, die aus einer zweckorientierten instrumentellen Vernunft resultieren: Störung des Gleichgewichts der Natur, Totalitarismus und ästhetische wie emotionale Verarmung der Welt. Steiner kritisiert nachdrücklich die rationalistisch aufgeklärten Wissenschaften, die "die eigentliche Aufklärung" noch vor sich hätten.
Alles in allem ist "Die Anschauung der Welt" eine umfangreiche, durchaus lesenswerte Zusammenschau geistes- und naturwissenschaftlicher Disziplinen. Dass sie überwiegend keine große inhaltliche Tiefe erreicht, ist bei der Fülle des behandelten Stoffes nicht weiter erstaunlich. Wichtig erscheint seine zentrale Absicht, die für Werte und Schönheit blinde Rationalität in die Schranken zu weisen, um die Schönheit um uns herum wahrzunehmen und zu bewahren.
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