Mehr Ungleichheit, mehr Widersprüche
Die Coronakrise ist viel mehr als eine Pandemie. Sie ist darüber hinaus ein kultursoziologisches Phänomen. Unser Umgang mit ihr polarisiert, stigmatisiert und verstört. Verändert sie die Gesellschaft auf fundamentale Art und Weise, oder fokussiert sie wie ein Brennglas bereits bestehende Probleme und Strukturen? Das versuchen die Autor(inn)en dieses Sammelbands, die aus Geistes- und Sozialwissenschaften, Biologie und Ökonomie kommen, zu klären. Ihre Antwort: Die Pandemie als Krisensituation führt zu einer Verschärfung von Ungerechtigkeit und Ungleichheit. War Popstar Madonna noch der Meinung, dass im Angesicht des Virus alle gleich seien, breitete sich die Pandemie in Ländern wie Indien, Brasilien und den USA besonders unter den Armen und sozial schlecht Gestellten rasant und fatal aus. Bürgern westlicher Wohlstandsgesellschaften müsste dies deutlich klarmachen, dass es eine Gleichheit nicht gibt, auch nicht innerhalb westlicher Gesellschaften. Wer im Homeoffice sitzt, den trifft die Krise anders als Menschen in Alten- und Pflegeheimen oder solche, die an der Kasse im Supermarkt arbeiten.
Es ist unsere Krise
Der Band ordnet die Pandemie auf mehreren Ebenen ein. Zum einen im historischen Vergleich, denn auch in Zeiten der Pest gab es die krudesten Verschwörungstheorien, und trotz geringen Wissens über die Verbreitungswege zeigte der Einsatz von Masken und Quarantäne schon damals Wirkung. Zum anderen soziologisch, indem die Autor(inn)en die Arbeitsverhältnisse oder den wachsenden, tief verwurzelten Rassismus unter die Lupe nehmen. Weiterhin bioökonomisch, indem die Beiträge aufzeigen, warum Habitate erhalten werden müssen, damit wir Viren im Griff behalten. So ordnet der Band das Phänomen reflektiert und unaufgeregt in bestehendes Wissen ein. Einig sind sich die Autoren darin, dass unsere moderne Welt auf Strukturen der Ausbeutung basiert, die sich durch die Coronakrise verschärfen. Es ist unsere Krise, gerade deshalb gehört dieser Diskurs in die Gesellschaft, um über Hintergründe, Strukturen und Mechanismen aufzuklären. Was zu dem einzigen Kritikpunkt an dem Band führt: Auf Grund des wissenschaftlichen Stils ist der relevante Inhalt nur hinreichend Vorgebildeten zugänglich.
Obwohl wir noch mittendrin stecken, wird bereits klar, dass die Pandemie Widersprüche schürt: Während die europäischen Grenzen im Schengen-Raum wieder geschlossen wurden, hängen »Leave no one behind«-Plakate in den Fenstern. Und nachdem man der Verkäuferin abstands- und anstandslos die letzte Packung Toilettenpapier entrissen hat, stimmt man in einen emotionsgeladenen Applaus für die Systemrelevanten der Corona-Gesellschaft ein. So löst der Band sein Versprechen ein, auf verschiedenen Ebenen zu beschreiben, wie Gesellschaften in der Pandemie agieren. Das Buch verlangt aber auch nach fortgesetzter Beobachtung und Dokumentation, was der Verlag mit einem Blog unter dem Titel »Jenseits von Corona« fördert.
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