100 Jahre Grundlagenforschung
Man lasse sich von dem Untertitel nicht in die Irre führen: Schon vor 1870 haben die Mathematiker mit dem Unendlichen gearbeitet. Aber eben nicht so richtig. Es ist ja auch nicht einfach, mehr als jede vorstellbare Anzahl von Objekten gedanklich zu fassen. Das gelingt, auf formal saubere Weise, erst durch den von Georg Cantor (1845–1918) eingeführten Begriff der Menge; und der wiederum ist, gemessen an der Größe der Aufgabe, geradezu aufreizend bieder: Pack alle die unendlich vielen Dinge gedanklich in einen Sack, binde ihn zu und betrachte fortan den Sack mit allem, was darin ist, als neues, eigenständiges Objekt.
Das genügt! Zusammen mit einigen einleuchtenden Regeln über das Bilden neuer Mengen aus vorhandenen lassen sich aus der leeren Menge nicht nur die natürlichen Zahlen konstruieren, sondern in weiteren Schritten die ganze Welt der rationalen und der reellen Zahlen. Quasi als Zugabe kommen Funktionen, mehrdimensionale Räume und auf diesem Wege diverse Geometrien hinterher. Damit ist die ganze Mathematik auf einem äußerst schmalen, aber unerschütterlichen Fundament aus Axiomen aufgebaut, so wie Euklid das in der Antike mit der klassischen Geometrie vorgemacht hatte.
Von Unendlichkeit zu Unendlichkeit
Dabei erleben die Forschenden die Gegenstände ihrer Arbeit als ebenso widerspenstig wie die Kollegen aus der Physik die Natur, und das, obgleich sie diese Gegenstände ohne jeden Bezug zur Natur selbst erschaffen haben. Aber es hilft nichts: Die rationalen Zahlen sind abzählbar, es gibt verschiedene Größenordnungen der Unendlichkeit, und ein Quadrat enthält genauso viele Punkte wie eine Strecke, ob es uns passt oder nicht. Und schon Cantor hatte die größten Schwierigkeiten, das zu glauben.
Andererseits schien dem menschlichen Erkenntnisdrang, dank dem unerschütterlichen Fundament, keine Grenze gesetzt. Kein Geringerer als David Hilbert (1862–1943), allgemein anerkannt als einer der Größten seiner Zeit, hat diese Haltung 1930 mit dem viel zitierten Spruch »Wir müssen wissen, wir werden wissen!« in einer Radioansprache verbreitet – und fand sich bereits wenige Jahre später widerlegt. Der österreichische Logiker Kurt Gödel (1906–1978) konnte beweisen, dass es in jedem einigermaßen leistungsfähigen Axiomensystem wahre, aber unbeweisbare Aussagen gibt.
Eine solche Aussage hatte Gödel sogar angegeben; zunächst konnte man jedoch davon ausgehen, dass das Problem über jenen eigens zum Beweis konstruierten Spezialfall hinaus keine Bedeutung habe. Aber es kam schlimmer: Wie sich herausstellte, betraf diese seltsame Unbeweisbarkeit auch eine Behauptung, für die sich die Mathematiker aus anderen Gründen lebhaft interessierten.
Die Kontinuumshypothese besagt, dass es zwischen der Unendlichkeit der natürlichen und jener der reellen Zahlen keine Zwischenstufe gibt. In einer Serie von Arbeiten bewies Paul Cohen (1934–2007), dass sie in dem allgemein verwendeten Axiomensystem weder bewiesen noch widerlegt werden kann. Damit bricht die Fiktion von einem mathematischen Universum, das wie die Natur gewisse vielleicht unbequeme, aber von uns unabhängige Wahrheiten enthält, krachend zusammen. Ob man die Kontinuumshypothese für wahr hält oder nicht, ist keine Frage des Beweises, sondern – Ermessenssache.
Das alles ist harte Kost. Immerhin haben die damit aufgeworfenen Fragen nicht nur den Mathematikern, sondern auch den Philosophen mächtig zu schaffen gemacht. Wer das – und einiges mehr – in gewöhnlicher Prosa darstellen will, wandert auf einem ziemlich schmalen Grat zwischen unkorrekt und unverständlich. Genau das ist dem promovierten Statistiker Aeneas Rooch, Jahrgang 1983 und Träger des Journalistenpreises 2021 der Deutschen Mathematiker-Vereinigung, in überaus achtbarer Weise gelungen.
Meine einzigen Einwände betreffen nicht den Stoff, sondern Einzelheiten der Darbietung. Jedes Mal, wenn es ans Eingemachte geht, warnt der Autor seine Leserinnen und Leser mit »Achtung, Sie betreten die Nerd-Zone«. Nichts gegen die Warnung; aber um die schwierigen Teile zu verstehen, muss man nicht unbedingt ein pickeliger, verschrobener Mann mit mangelhafter Sozialkompetenz sein. Im Gegenteil: Das Zeug ist im Prinzip jedem Menschen zugänglich, der zu der zugehörigen gedanklichen Anstrengung bereit ist.
Prominente Plätze am Anfang und am Schluss des Buchs widmet Rooch der Tatsache, dass sowohl Cantor als auch Gödel vor allem gegen Ende ihres Lebens mit schweren psychischen Problemen zu kämpfen hatten. Da drängt sich ein Gedanke auf, auch wenn der Autor ihn mit keinem Wort erwähnt: Wer sich in so esoterischen Gefilden mit den Paradoxien der Mengenlehre herumschlägt: kein Wunder, wenn der verrückt wird. Alles spricht dafür, dass diese Vorstellung falsch ist. »Mathematiker« und »verrückt« sind voneinander unabhängige Eigenschaften. Mehr noch: Ein Mensch, der mit der Realität um sich herum nicht zu Rande kommt, weil er nicht mehr in der Lage ist, sie richtig zu interpretieren, wird in den Gewissheiten der Logik, die von jeder Realität unabhängig sind und an denen es nichts zu interpretieren gibt, eher eine Stütze finden als eine zusätzliche Verunsicherung.
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