»Die Entdeckung des Selbst«: Drei Philosophen unzeitgemäß betrachtet
Kaum ein Tag vergeht, ohne dass in den Medien Beiträge über Identitätspolitik erscheinen. Ein Hauptmerkmal der oft vehement debattierten Themen ist die Selbststilisierung von Personen aus Minderheiten als Außenseiter der Mehrheitsgesellschaft.
Außenseiter ihrer Zeit waren allemal die drei Philosophen des 19. Jahrhunderts, die der Journalist und Schriftsteller Eberhard Rathgeb in seinem Buch »Die Entdeckung des Selbst. Wie Schopenhauer, Nietzsche und Kierkegaard die Philosophie revolutionierten« vorstellt. Die Frage liegt nahe, ob der Autor mit seiner eigenwilligen Interpretation der drei Antimodernisten des 19. Jahrhunderts zugleich seinem eigenen Antimodernismus der Gegenwart Ausdruck verleihen will.
Ablehnung der Moderne, Probleme mit Frauen – und das Selbst
Rathgebs Buch besteht aus drei langen Kapiteln, in denen er ihr Werk sehr eng mit dem Leben der drei Philosophen verwebt. Diese umrahmt er mit kürzeren thematischen Kapiteln zu ihrer Ablehnung der Moderne, zu ihren Problemen mit Frauen und zu einer Psychologie der Identität. In diesen kürzeren Kapiteln erarbeitet der Autor die Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen den Philosophen.
Zurecht stellt Rathgeb »die Drei« als Außenseiter ihrer Zeit dar, die sich fern von sozialen Kämpfen und Verwerfungen des gesellschaftlichen Alltags hielten. Persönlich verloren sie relativ früh ein oder beide Elternteile, konnten vom Erbe oder einer Pension frei von Erwerbsarbeit leben. Ihre Werke fanden wenig Anerkennung unter ihren Zeitgenossen; erst im späten Alter oder sogar posthum entfaltete sich ihre Philosophie – allerdings nicht im akademischen Betrieb der Universitätsphilosophie, sondern unter Schriftstellern, Künstlern und Bürgerlichen. Sie hatten gleichermaßen Schwierigkeiten mit Frauen, blieben unverheiratet, waren unglücklich verliebt. Und sie waren Sprachvirtuosen mit Hang zu Polemik und Streitsucht – kurz: Sie waren keine ausgesprochen »angenehmen« Zeitgenossen.
In ihren Philosophien verortet Rathgeb die »Entdeckung des Selbst«, weil sie aus der Versenkung in das je eigene Selbstgefühl hervorgegangen seien. Es ist korrekt, dass sich das »Selbst« erst im 19. Jahrhundert als philosophischer Begriff voll entfaltet hat (Vorläufer etwa Herder, aber auch früher Montaigne) – doch das trifft am ehesten auf Kierkegaard zu, der das Werden seines Selbst in Reflexionen und Gesprächen mit Gott entwickelte. Für Schopenhauer war der »Charakter« angeboren, es galt diesen zu erkennen und zu leben; während Nietzsche, nach Rathgeb, die große Selbstinszenierung zur Selbst(er)findung trieb. Die drei kann man zu Recht als Vorläufer von Psychoanalyse und Existenzialismus sehen.
Möchte man Rathgebs Buch einordnen, wird man darin einen langen, sehr persönlichen Essay erkennen, mit dem er sich in die Philosophie der drei Männer einfühlt. Das Werk lebt von immanenter Interpretation. Zwar enthält der Anhang ein ausführliches Literaturverzeichnis, eigenartigerweise zitiert der Autor allerdings niemanden daraus, sondern ausschließlich aus den Werken der drei Philosophen. Das verstärkt nicht nur den Eindruck des persönlichen Gesprächs mit ihnen, sondern auch vom Fehlen jeglicher kritischen Distanz zu den Personen und ihrer Zeit – als ob der Antimodernismus der drei auf den Autor selbst abgefärbt habe. Das häufig anzutreffende Pathos in Rathgebs Werk bekräftigt diesen Eindruck der Unzeitgemäßheit.
Man kann schon mal misstrauisch werden, was von den unmotivierten und eigenwilligen Interpretationen einiger Gemälde aus der Zeit noch genährt wird. So vertieft sich Rathgeb zum Beispiel frei assoziierend in Eduard Manets »Frühstück im Grünen« (1863), ignoriert dabei aber Bekanntes aus der Kunstgeschichte. Wo er in den beiden dargestellten Männern junge Ärzte oder Advokaten vermutet, handelt es sich tatsächlich um Künstler, Manets Bruder Eugène und den Bildhauer Ferdinand Leenhoff. Beim Buch, das Rathgeb neben der nackten Frau gesehen haben will, handelt es sich hingegen um eine Metalldose für Proviant.
Vergleicht man seine Deutung der Bilder mit seinen Interpretationen der philosophischen Werke, erkennt man in Rathgebs Schreiben ein frei assoziierendes Denken, und zwar in einem Stil, der sich dem der drei Philosophen noch überhöhend anzuverwandeln scheint. Der Autor hat sich unbestritten intensiv in ihr Denken und Schreiben hineinversetzt, jedoch kaum wieder herausgefunden. Die Distanz von gut 150 Jahren lässt er vermissen. Das Buch ist zwar lesbar geschrieben, aber da es gleichsam frei flottiert, wirkt es sehr wolkig.
Schreiben Sie uns!
Beitrag schreiben