Zehn Jahre Arabischer Frühling
Vor zehn Jahren erschütterten mehrere Ereignisse die arabische Welt: Von Tunesien bis nach Syrien gingen zahlreiche Menschen auf die Straße. Sie forderten unter anderem mehr Gerechtigkeit, weniger Korruption und Polizeigewalt. Regierungen wie die von Tunesiens Präsidenten Ben Ali oder des Ägypters Husni Mubarak, die jahrzehntelang geherrscht hatten und daher als stabile Anker im Nahen Osten galten, wurden infolge der Bewegungen gestürzt – das hatten selbst Experten nicht kommen sehen.
Nachforschungen vor Ort
Der Journalist Jörg Armbruster, ehemaliger Moderator des »Weltspiegel« und Autor zahlreicher Bücher über die arabische Welt, widmet sich der Frage, was die Folgen dieser Umwälzungen sind – und wie es den Menschen in den betroffenen Regionen nun ergeht. Dafür reiste er 2019 nach Ägypten und in den Sudan, um sich vor Ort in Gesprächen mit Einheimischen einen Eindruck zu verschaffen. Auf diesen beiden Ländern liegt auch der Fokus seines Buchs. Wer hofft, ein allgemeines Bild aller Länder zu erhalten, in denen es 2011 Aufstände gab, wird wohl enttäuscht sein. Das wäre auf rund 300 Seiten aber nicht bewältigbar. Allein um die verheerenden Situationen und unterschiedlichen Akteure in Syrien oder im Jemen zu beleuchten, bedarf es eines eigenen Werks.
In den ersten Kapiteln des Buchs, die Armbruster Ägypten widmet, schildert er zunächst die Lage vor dem Putsch, als Mubarak noch an der Macht war. Er geht dabei auf persönliche Vorgeschichten seiner Interviewpartner ein. Einige davon kennt der Journalist schon länger und hatte sie bereits in den vergangenen Jahren aufgesucht. Dadurch erhält der Leser ein lebendiges Bild der dort herrschenden Verhältnisse und bekommt einen Eindruck davon, warum sich die Bevölkerung 2011 gegen das restriktive Regime auflehnte. Man erfährt von Verhaftungen, brutalen Verhören, Folter – und dass europäische Regierungen gezielt wegschauten.
Die nächsten Abschnitte widmen sich den Protesten, dem darauf folgenden Regimewechsel, als Mohammed Mursi, der zu den Muslimbrüdern gehört, an die Macht kam, und dem anschließenden Militärputsch. Seither ist Abdel Fatah Al-Sisi Präsident des Lands – und wie viele Stimmen behaupten, herrscht er mit mindestens genauso strenger Hand wie sein Vorvorgänger Mubarak. Die Verhältnisse haben sich also offenbar nicht gebessert, sondern sind an manchen Stellen sogar noch schlimmer geworden.
Anschließend geht Armbruster auf den Sudan ein. Dort fand die Revolution nicht Anfang der 2010er Jahre statt, sondern erst 2019. Als er die Bürger vor Ort mit der Frage konfrontiert, ob sie die Erben des Arabischen Frühlings seien, widersprechen sie. Schließlich lebten im Sudan Menschen verschiedenster Religionen und ethnischer Hintergründe und nicht nur Araber. Dennoch weist ihr Aufbegehren gegen das diktatorische Regime gewisse Ähnlichkeiten mit den Geschehnissen im Nahen Osten auf: Die Demonstranten versammelten sich, um friedlich für mehr Menschenrechte und Gerechtigkeit einzustehen. Auch ihnen widerfuhr Gewalt, doch gelang es ihnen, einen Machtwechsel nach 30-jähriger Herrschaft des Präsidenten zu bewirken. Noch ist es allerdings zu früh, um zu beurteilen, welche Folgen die Revolution für das afrikanische Land haben wird.
In den letzten Kapiteln geht der Autor auf die Entwicklungen in Tunesien ein, wo der Arabische Frühling seinen Anfang nahm. In »Ein arabisches Trauma« erklärt er, warum das Verhalten Europas in weiten Teilen der arabischen Welt als Doppelmoral angesehen wird. Auf der einen Seite betonen Staaten wie Deutschland, England und Frankreich, wie wichtig ihnen Menschenrechte sind, doch wenn es um finanzielle Interessen geht, stehen ihre moralischen Vorstellungen hintan: So werden immer noch Waffen in Krisenregionen geliefert und wirtschaftliche Abkommen mit repressiven Regierungen geschlossen, die ihre Bevölkerung unterdrücken.
Armbruster gelingt es, auf wenigen Seiten einige der komplexen Geschehnisse im Nahen Osten anschaulich und spannend zu schildern. Indem er immer wieder Ausschnitte aus Interviews und persönliche Erlebnisse von Betroffenen einfließen lässt, kann sich der Leser ein lebhaftes Bild der dort herrschenden Zustände machen – sei es vor, während oder nach den Protesten. Insgesamt ist dem Autor damit ein gut verständliches und informatives Werk gelungen, das zum Nachdenken anregt – auch angesichts des Verhaltens der westlichen Regierungen.
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