Auf zu neuen Ufern
Spätestens seit Google Earth scheint der Globus bis in den letzten Winkel erforscht und vermessen. Die großen weißen Flecken auf der Landkarte sind verschwunden. Vor mehr als 650 Jahren sah das noch ganz anders aus, als portugiesische und spanische Seefahrer in unbekannte Gefilde vorstießen und Meile um Meile den menschlichen Horizont und mit ihm das Wissen über die Welt erweiterten.
Der Hamburger Historiker Jürgen Sarnowsky legt in diesem Buch eine kurzgefasste, aber dennoch detaillierte und kenntnisreiche Geschichte europäischer Entdeckungsreisen vor – von Marco Polo (1254-1324) bis Alexander von Humboldt (1769-1859). Er begleitet Polo auf seinem Weg durch Innerasien, geht mit Christoph Kolumbus (1451-1506) an Bord der Santa Maria, wirft einen Blick in das Logbuch des Portugiesen Ferdinand Magellan (1480-1521) auf seiner Weltumseglung, heftet sich an die Fährten der spanischen Konquistadoren in Mittel- und Südamerika und folgt den Forschungsreisen ins Innere Afrikas.
Die Verheißung des Unerschlossenen
Technische Aspekte etwa im Bereich der Navigationskunst, welche die Entdeckungsfahrten überhaupt erst ermöglichten, interessieren Sarnowsky wenig – ebenso wie die Frage nach deren Finanzierung. Sein Hauptaugenmerk liegt vielmehr auf den Reiseberichten und der Frage, was die Menschen in ferne, unbekannte Gebiete trieb. Nah an den Quellen wertet er Texte von Pilgern, Kaufleuten, Missionaren, Entdeckern, Eroberern und Wissenschaftlern aus. Dabei schälen sich deren Motive heraus, ins Unbekannte aufzubrechen: religiöse, wirtschaftliche und wissenschaftliche Beweggründe ebenso wie Ruhmsucht, Abenteuerlust und Eroberung. Auf ihren Reisen kartographierten und katalogisierten sie, beschrieben Land und Leute, schilderten deren Sitten und Bräuche – und berichteten mit erschreckender Selbstverständlichkeit, wie sie im Namen Gottes Indigene mordeten.
Doch Sarnowsky mahnt zur Vorsicht. Wo in den Reiseberichten die Beobachtung ende und Phantasie, Prahlerei und Dichtung anfingen, sei oft nicht zu entscheiden. Daher dürfe man die Schilderungen nicht immer für bare Münze nehmen. Meist seien sie subjektiv und interessengebunden. Zudem sei nicht jeder Berichterstatter selbst gereist; viele hätten nur das verarbeitet, worüber andere berichtet hatten.
Der Autor beschreibt die machtpolitische Dimension der europäischen Expansion, die sich in dem Dreiklang "entdecken, erobern, erforschen" zusammenfassen lässt. Für die Bewohner der neu entdeckten Gebiete endete sie vielfach in Rechtlosigkeit, Ausbeutung und Unfreiheit.
Zu kurz gefasst
Leider geht der Autor bei seinem Streifzug durch die europäische Entdeckungsgeschichte nicht immer systematisch vor und oft auch nicht ins Detail. Zahlreiche höchst interessante Aspekte lässt er unberücksichtigt oder streift sie nur. Er blendet etwa die Widrigkeiten aus, mit denen die frühen Entdecker, für die Vernunft und Aberglaube noch Hand in Hand gingen, zu kämpfen hatten. Eine Einordnung in geistesgeschichtliche Zusammenhänge sucht man ebenso vergebens wie eine Antwort auf die im Buch aufgeworfene Frage, "warum gerade die Europäer die Welt erkundet, vermessen und erobert" haben. Wenig Beachtung schenkt der Autor zudem der Tatsache, dass Kolumbus, Vasco da Gama (1469-1524) und all die anderen nicht die ersten Weltreisenden und auch keine Entdecker im eigentlichen Sinne waren, sondern auf Gebiete trafen, die schon lange besiedelt gewesen waren. Das hatte bereits im 18. Jahrhundert den Mathematiker Georg Christoph Lichtenberg (1742-1799) zu dem Bonmot animiert: "Der Amerikaner, der den Kolumbus zuerst entdeckte, machte eine böse Entdeckung."
Sarnowskys Buch hat Stärken, lässt aber auch viele Fragen offen und erzählt mehr nach, als es als historisch reflektiert. Unterm Strich wird es der Tragweite des Themas nicht voll gerecht.
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