»Die erstaunliche Welt der Graugänse«: Tiere mit Intelligenz und Charakter
Die Verhaltensbiologin Sonia Kleindorfer ist seit 2018 die Leiterin der »Konrad Lorenz Forschungsstelle« der Universität Wien in Grünau im Almtal. In diesem Buch präsentiert sie ihre Beobachtungen und Forschungsergebnisse zum Verhalten der Graugänse und folgt damit der Tradition der Forschungsstelle, die von Konrad Lorenz 1974 gegründet wurde. Lorenz hatte 1973 den Nobelpreis für »Physiologie oder Medizin« erhalten und gilt als Begründer der Verhaltensforschung. Sein Leben wurde zuletzt unter anderem im Buch von Föger und Taschwer unter wissenschaftshistorischen Aspekten ausführlich beschrieben.
Graugänse sind seit Jahrzehnten bevorzugte Forschungsobjekte der Verhaltensbiologie. Ein für sie grundlegender und seit Langem bekannter Mechanismus ist beispielsweise die Prägung auf die ersten Lebewesen, die das frisch geschlüpfte Küken als Eltern ansieht. In ihrem Buch schildert die Autorin das Leben der Gänse unter sehr unterschiedlichen Aspekten. Dabei zeigen sie einerseits ein ausgeprägtes individuelles Verhalten, organisieren sich andererseits aber auch sehr gut in größeren Gemeinschaften.
Gans ist also nicht gleich Gans. Jedes Tier besitzt Persönlichkeitsmerkmale, die von den Erfahrungen seines jeweiligen Lebens geprägt sind. Die Gänse verfügen zudem über eine überraschend hochentwickelte Art, miteinander zu kommunizieren. Verschiedene Rufe sorgen für die gegenseitige Identifikation oder dienen als Warnung vor drohender Gefahr. Außerdem können die Tiere Gesichter wiedererkennen, was sich direkt auf ihr Sozialverhalten und ihre Beziehungen auswirkt. Dies konnten Forscher nachweisen, indem sie testeten, wie die Gänse auf lebensgroße Fotos ihrer Artgenossen reagierten. Dabei zeigte sich, dass Verwandte und Bekannte eindeutig an ihrem Ruf und an ihren unverwechselbaren Gesichtern erkannt wurden. An die Gesichter von Menschen erinnern sich die Gänse ebenfalls sehr lange. Auch auf Bilder oder Attrappen von Raubtieren reagieren Gänse und können bereits aus großer Entfernung gefährliche Raubvögel wie Adler oder auch Füchse ausmachen.
Tiere mit Intelligenz und Traditionsbewusstsein
Graugänse sind intelligente Tiere, und sie können ihr Wissen weitergeben und in der Gruppe Traditionen ausbilden. Im Gegensatz zu den Ansichten von Behavioristen reagieren Gänse, ähnlich wie Schimpansen und andere Säugetiere, nämlich nicht einfach stereotyp auf äußere Reize. Bei ihnen handelt es sich vielmehr um Individuen mit speziellen Charakteren und individuellen Vorlieben, die auch ihr Sozial- und Paarungsverhalten bestimmen.
Eine wichtige Frage für das Team der Forschungsstelle ist, ob ein bestimmtes Verhalten angeboren oder erlernt ist. An Tieren, die von Menschen aufgezogen werden, lassen sich die Mechanismen der Prägung von Verhaltensweisen genauer untersuchen. Gleichzeitig gehört es zur Strategie der Forschungsstelle, Tiere nicht nur im Labor und unter künstlichen Bedingungen, sondern auch in freier Wildbahn zu studieren. Damit folgen die Wissenschaftler der Tradition der klassischen Verhaltensforschung, die von Konrad Lorenz und seinen Kollegen begründet wurde – und grenzen sich vom Vorgehen der Behavioristen ab, die ihre Untersuchungen ausschließlich im Labor durchgeführt hatten. Dass der Lorenz‘sche Ansatz inzwischen weltweit anerkannt ist, wird an der Arbeit von Jane Goodall deutlich, die jahrzehntelang das Verhalten von Schimpansen in ihrer natürlichen Umwelt beobachtet hat.
Insgesamt sind die Inhalte des Buchs abwechslungsreich gestaltet, es ist verständlich geschrieben und zahlreiche Farbfotos illustrieren zudem die Aktivitäten der »Konrad Lorenz Forschungsstelle«. So gibt dieses populärwissenschaftliche Buch auch dem interessierten Laien einen faszinierenden Einblick in die Verhaltensweisen dieser nur scheinbar uninteressanten Lebewesen.
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