Italiens erste Hochkultur
Wer waren die Etrusker, die seit dem 8. Jahrhundert vor Christus große Teile Italiens beherrschten, ausgedehnten Fernhandel betrieben und, ähnlich den Griechen, in einzelnen Stadtstaaten ohne nationalstaatlichen Überbau organisiert waren? Was wissen wir über dieses rätselhafte Volk, welches das frühe Rom zivilisierte, um diesem schließlich zu unterliegen? Was können wir über seine Lebensumstände sagen, über sein vielfältiges Kunstschaffen, seine Sitten, religiösen Vorstellungen und seine Sprache?
Antworten darauf gibt der vorliegende Katalogband, der reich illustriert und von ausgewiesenen Fachleuten verfasst worden ist. Der Band begleitet die gleichnamige Sonderausstellung der Staatlichen Antikensammlungen München, die man noch bis 17. Juli 2016 besuchen kann. Gestützt auf die neuesten Erkenntnisse beleuchten namhafte Wissenschaftler darin die Geschichte dieses faszinierenden altertümlichen Volks, mit dem sich die eigens gegründete Disziplin der Etruskologie befasst.
Als erhellend erweist sich der methodische Ansatz der Autoren. Bislang konzentrierten sich Forscher darauf, den Aufstieg und Niedergang der Etrusker zu untersuchen und spezielle Aspekte wie Religion oder Jenseitsvorstellungen unter die Lupe zu nehmen. Die Beiträge in "Die Etrusker" zeichnen dagegen einen langen, kontinuierlichen Veränderungsprozess nach – vom ersten Auftauchen dieses Volks bis zu dessen gänzlicher Auflösung im Römischen Reich.
Tolerante Angestammte?
Die Autoren gehen der Frage nach, woher die Etrusker kamen. Unter Archäologen, Linguisten und Historikern ist das umstritten; laut dem antiken Historiker Herodot wanderten sie aus Anatolien ein. Befürworter dieser These verwiesen unter anderem darauf, dass die Sprache der Etrusker nicht zu den indogermanischen Sprachen gehört. Heute neigt die archäologische Forschung allerdings eher zu der Annahme, dass die Etrusker ein alteingesessenes mittelitalisches Volk waren, dessen Kultur sich an Ort und Stelle entwickelte. Das Problem der "fremden Sprache" erklärt man neuerdings mit einer Zuwanderung von außen, und daraus wiederum leitet man ab, das aus der Villanova-Kultur hervorgegangene Volk sei Fremdem gegenüber sehr aufgeschlossen gewesen.
Mehr den schönen Dingen des Lebens zugetan als dem Krieg, nahmen die Etrusker Einflüsse aus dem gesamten Mittelmeerraum auf, dabei unterstützt von den Griechen, die seit Mitte des 8. Jahrhunderts vor Christus im Süden Italiens siedelten. Dies zeigt sich besonders deutlich in der etruskischen Kunst, einem Amalgam verschiedener kultureller Einflüsse. In ihr vermischten sich altitalische mit griechischen und orientalischen Traditionen, die über phönizische Händler und Künstler nach Mittelitalien gekommen waren.
Vorbildlich bis zur Selbstaufgabe
Derart inspiriert schufen die Etrusker die erste Hochkultur auf italischem Boden. Sie entwickelten einen eigenen Stil beispielsweise in der Keramikproduktion und der Goldschmiedekunst und gaben Impulse an die aufstrebenden Römer, denen sie den Straßen-, Brücken- und Kanalbau sowie die Wahrsagekunst – die "disciplina etrusca" – vermittelten. Für die Römer war dieser Kontakt äußerst fruchtbar, für die Etrusker endete er mit dem Verlust ihrer Identität: Sie waren 89 v. Chr. zu römischen Bürgern geworden.
Die etruskische Kultur, die sich in zahlreichen Kunstwerken und anderen Zeugnissen spiegelt, bleibt unvergessen. Dazu trägt auch der vorliegende Band bei, in dem zahlreiche Artefakte anschaulich beschrieben und in den historischen Kontext eingebettet werden. Zu ihnen gehören Gefäße, Waffen und Schmuck ebenso wie gewaltige Grabhügel mit Sarkophagen, Aschenurnen und Totenbetten. Gleichzeitig räumen die Autoren mit Vorurteilen auf. Etwa dem, dass die etruskischen Frauen besonders freizügig und emanzipiert gewesen seien und aktiv am sozialen Leben teilgenommen hätten. Tatsächlich waren die Etruskerinnen, ähnlich ihren Geschlechtsgenossinnen in anderen Kulturen, wohl Gefangene einer patriarchalischen Männerwelt.
Wer sich anschaulich und fundiert über die Etrusker informieren will, die im 1. Jahrhundert vor Christus so lautlos aus der Geschichte verschwanden, ist mit dem Katalogband gut beraten.
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