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Abgehobenes Thema

"Die Tatsache, dass sich Tiere – und letztendlich auch der Mensch – in die Lüfte erheben können (...) übt seit jeher eine enorme Faszination auf uns aus (...) Außerdem ist sie auch typisch für die nahezu unglaubliche Fähigkeit der Evolution, jede nur erdenkliche Nische bis an die Grenzen auszuloten." Ein Verständnis dieser Fähigkeit und die damit einhergehende Faszination zu vermitteln, darauf zielt dieses Buch ab. Geschrieben haben es der leidenschaftliche Tierfotograf und Mathematiker Georg Glaeser, der erfahrene Evolutionsbiologe Hannes Paulus sowie der Bewegungsphysiologe und Flugbiophysiker Werner Nachtigall. Ihnen ist ein beeindruckender Bildband mit großartigen Fotos und wissenschaftlich fundierten Erläuterungen gelungen.

Das Werk ist nach Doppelseiten strukturiert, die je einen Aspekt des Fliegens behandeln und lexikalischen Charakter haben. Acht Haupt- und zahlreiche Unterkapitel, die je für sich gelesen werden können, nähern sich dem Thema aus verschiedenen Blickwinkeln: Fliegen aus evolutionärer, biophysikalischer und ökologischer Perspektive etwa sowie aus Sicht des Naturfotografen. Die Bilder sind nicht nur nach biologischen Kriterien angefertigt worden, beispielsweise um eine gute Bestimmbarkeit zu gewährleisten, sondern auch nach künstlerischen oder sogar mathematischen – unter anderem im Hinblick auf Schatten und Spiegelungen. Zum Teil werden sie als verschiedene Entwicklungsphasen des Fliegens einander gegenübergestellt. Dementsprechend heißt es in dem Buch "Fliegen ist ein sehr dynamischer Prozess und Flugaufnahmen sind niemals nur schön; sie lassen sich auch vielfältig biologisch und physikalisch interpretieren und enthalten stets auch informative Komponenten, denen nachzuspüren sich lohnt". Zahlreiche Querverweise und das ausführliche Stichwortverzeichnis erleichtern die Lektüre; Literaturangaben und Internetlinks geben den Lesern die Möglichkeit, sich näher mit dem Stoff zu befassen.

Schwirrende Kerbtiere im Zeitalter der Fische

Quetzalcoatlus northropi | Der Flugsaurier Quetzalcoatlus northropi gehörte zu den größten fliegenden Wesen, die je gelebt haben. Er war im Stand so groß wie eine Giraffe und hatte bis zu 13 Meter Spannweite. Daran gemessen fiel seine Körpermasse mit 100 bis 200 Kilogramm erstaunlich klein aus. Vermutlich konnte er mit den Flügeln schlagen, dürfte aber vorwiegend gesegelt sein. Rätselhaft ist, wie Q. northropi vom Boden abhob – vielleicht mit einem Sprung. Selbstverständlich gab es zu seiner Zeit keine Menschen; der Mann im Bild dient nur zum Größenvergleich.

Bereits im Devon vor 400 Millionen Jahren entwickelten sich geflügelte Insekten, wie aus dem Buch hervorgeht. 200 Millionen Jahre später tauchten erste Vögel auf und noch einmal 80 Millionen Jahre später die Flugsaurier, von denen die Vögel nicht abstammen. Vor etwa 50 Millionen Jahren "lernten" auch Säugetiere, sich in die Lüfte zu erheben. Von den Systemen des Erdzeitalters über Fossilienkunde, Evolutionstheorie, Genetik bis hin zu biologischen Analogien erörtern die Autoren wesentliche fachliche Grundlagen.

Weiter hinten im Buch erfahren die Leser, worauf es ankommt, wenn man Tiere im Flug fotografieren möchte – demonstriert anhand faszinierender Aufnahmen. Um komplexe Bewegungsabläufe zu analysieren, genügen manchmal Schnappschüsse. Oft benötigt man aber spezielle Techniken wie das Verschmelzen aufeinander folgender Belichtungen mit sehr kurzen Zeitabständen ("multiple Bilder"). So zeigen Hochgeschwindigkeitsfotos senkrechte Blitzstarts von Möwen oder auch Rivalenkämpfe von Fluginsekten. Zeitlupenaufnahmen stellen unter anderem das Flugverhalten von Fliegen und Heupferden dar. Selbst erfahrene Fotografen bekommen in diesem Abschnitt wertvolle Tipps, etwa zum "Rolling-Shutter-Effekt".

Keine Albatrosse im Schwirrflug

Wer sich aus biophysikalischer Sicht mit dem Thema beschäftigt, ist erstaunt, wie viele technische Probleme ein fliegendes Lebewesen überwinden muss. Der Evolution sind hier enge physikalische Grenzen gesetzt, wie die Autoren darlegen. Sie vermitteln physikalische Grundkenntnisse zu Bewegungslehre, Huberzeugung an Flügeln, Luftkräften und Flügelmorphologie, zu Koordination und Rhythmik flügelschlagender Organismen. Als Leser sollte man hier über einige mathematisch-physikalische Vorkenntnisse verfügen, um den Ausführungen – etwa bezüglich der Reynolds-Zahl – folgen zu können.

Ein großer Abschnitt widmet sich den Mechanismen der Evolution und behandelt unter anderem die sexuelle Selektion sowie den Einfluss von Klimaänderungen. Ein weiterer nimmt die Insekten als erste Flugtiere und erfolgreichste Wirbellose in den Blick. Kapitel über Vögel als "klassische Flugtiere", über fliegende Säuger und die Faszination des Fliegens runden das Werk ab. "Wer nicht vom Fliegen träumt, dem wachsen keine Flügel", schrieb der Schweizer Lyriker Robert Lerch – und wer es tut, der findet (fast) alles Wissenswerte zum Thema in diesem Band. Wann, wie oft unabhängig voneinander und woraus haben sich Flügel entwickelt? Wie sind Federn entstanden? Mit welchen Methoden lässt sich der Luftwiderstand überwinden? Was ist die Höchstgeschwindigkeit im Sturzflug? Warum sehen Adler so scharf? Auf diese und etliche andere Fragen liefert das Buch Antworten.

Das in jeder Hinsicht großartige Lese-, Schau-, Lehr- und Nachschlage-Buch lässt in Bild und Text kaum Wünsche offen. Nur ein größeres Buchformat und eine entsprechend größere Schrift hätten den Lesegenuss noch steigern können. Der Band lässt sich allen einschlägig Interessierten empfehlen.

Hinweis der Redaktion: Spektrum der Wissenschaft und Springer Science+Business Media gehören beide zur Verlagsgruppe Springer Nature. Dies hat jedoch keinen Einfluss auf die Rezensionen. Spektrum der Wissenschaft rezensiert Titel aus dem Springer-Verlag mit demselben Anspruch und nach denselben Kriterien wie Titel aus anderen Verlagen.

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