Fragwürdige Mythenpflege
In Deutschland leiden derzeit etwa 1,5 Millionen Menschen unter chronischer Demenz. Der fortschreitende Abbau fundamentaler Hirnfunktionen geht dabei zu etwa einem Fünftel auf Durchblutungsstörungen zurück. Zwei Drittel aller Demenzen beruhen indes auf einer Alzheimererkrankung. Während gefäßbedingte (vaskuläre) Demenzen mitunter reversibel sind, gilt eine degenerative Alzheimerschädigung als unumkehrbar. Das ist fatal, denn Morbus Alzheimer ist weltweit mit Abstand die häufigste Hirnerkrankung. Allein hier zu Lande erhalten jährlich zehntausende weitere Menschen diese grausame Diagnose. Die jahrzehntelange Suche nach den molekularen Auslösern identifizierte inzwischen zwar ein Zusammenspiel von Beta-Amyloid und Tau-Proteinen, doch dies führte bislang lediglich zu einer sich immer weiter perfektionierenden Diagnostik. Was fehlt, sind Erfolg versprechende Therapieverfahren.
Michael Nehls behauptet nun, es gäbe so etwas wie eine »Formel« gegen Alzheimer. Denn Alzheimer sei kein Schicksal, sondern eine Mangelerkrankung. Behebe man nur jene Mängel konsequent, so lasse sich Alzheimer vermeiden und im Anfangsstadium sogar heilen.
Das klingt bedenklich nach einem jener unzähligen faktenfeindlichen Esoterik-Titel auf dem Buchmarkt, die einfache Antworten auf komplexe medizinische Probleme versprechen (und nicht liefern). Hat der Autor die Expertise, den Betroffenen derartige Hoffnungen zu machen? Immerhin ist er habilitierter Arzt und Molekulargenetiker. An den Universitäten von Freiburg, Heidelberg, Frankfurt und Hannover sowie an der University of California in San Diego war er daran beteiligt, die Ursache verschiedener Erbkrankheiten zu entschlüsseln. Zudem war er leitender Genomforscher einer US-Firma und führte später ein deutsches Biotech-Unternehmen. Derzeit arbeitet er als freier Wissenschaftsautor sowie Privatdozent und hält Vorträge an Universitäten und auf Kongressen – vor allem über die Ursachen von Zivilisationskrankheiten. Mit seinem Buch »Die Alzheimer-Lüge« (2014) gelang ihm ein Spiegel-Bestseller.
Krankheit aus Zeitmangel?
Hinsichtlich des thematischen Aufbaus und der Bebilderung ist Nehls' neuer Band hervorragend konzipiert. Der Autor schreibt zudem mit leichter Feder, sachlich verständlich, unterhaltsam und zuweilen sogar spannend. Durch fortwährende persönliche Ansprache bezieht er seine Leser immer wieder elegant ein.
Die Grundthese des Werks lautet: Zivilisationskrankheiten wie Diabetes, Herz-Kreislauf-Komplikationen, Krebs und eben Alzheimer seien vor allem eine Folge unserer modernen Ernährungs- und Lebensweise. Viele gesundheitliche Probleme wären vermeidbar, würden wir uns wieder »artgerechter« ernähren und eine insgesamt »natürlichere« Lebensweise praktizieren. Nehls' Anti-Alzheimer-Formel umfasst fünf Bereiche: gesunde Ernährung, körperliche Aktivität, Schlaf, soziale Aktivität und Lebenssinn. In der Sache einfach, wie Nehls konstatiert, doch praktisch schwer realisierbar. Denn die Herausforderung bestehe darin, genügend Zeit für alle fünf Bereiche aufzubringen: »Finden wir keine Zeit für all diese natürlichen Bedürfnisse, wird Alzheimer zu einer Krankheit aus Zeitmangel.«
In der Tat: Wen Sinnfragen quälen, wer zu wenig schläft und sich kaum bewegt, wem es an sozialen Kontakten und einer gesunden Ernährung fehlt, der gerät unter chronischen Stress. Dies, argumentiert der Autor, behindere das Wachstum des Hippocampus – jener im Schläfenbereich befindlichen Erinnerungszentrale unseres Gehirns, die Nehls für den zentralen Ort der Alzheimerprophylaxe hält. All seine Ratschläge zielen darauf ab, einer Schrumpfung des Hippocampus entgegenzuwirken, und zwar bis ins hohe Alter.
»Natürlich werden wir älter«, schreibt Nehls, »im Alter krank zu werden ist deshalb jedoch nicht natürlich.« Das liest frau/man gern. Und was der Arzt für eine gesündere Lebensweise vorschlägt, erscheint denn auch plausibel begründet und empfehlenswert. Was allerdings stört, sind seine Sorglosigkeit beim Vereinfachen komplexer Zusammenhänge sowie seine mitunter ideologisch aufgeladenen Begrifflichkeiten.
Gewagte Hochrechnung
Fernsehen etwa ist laut Nehls pures Gift: »Schon eine Stunde täglich erhöht laut Statistik die Wahrscheinlichkeit, an Alzheimer zu erkranken – und zwar um etwa 30 Prozent.« Da ein durchschnittlicher Bürger weit über drei Stunden täglich vor dem Bildschirm verbringe, so des Autors naive Hochrechnung, verdopple »sich schon dadurch das Alzheimerrisiko«.
Solche gewagten Schlüsse sind bei Nehls leider kein Einzelfall. Geradezu albern wird es, wenn er die »altsteinzeitliche Ernährungsweise« (was genau soll das sein?) als »artgerecht« bezeichnet. Als der Mensch im Lauf der Jahrhunderttausende vollkommen unterschiedliche ökologische Nischen besetzte, war sein entscheidender Vorteil doch wohl eher die fehlende Spezialisierung, die es ihm erlaubte, sich über große Teile des Globus zu verbreiten. Die wenigen Kulturen, die heute noch eine überwiegend steinzeitliche Lebensweise praktizieren, zeigen jedenfalls, dass ihre Ernährung vor allem an den jeweiligen Lebensraum angepasst ist. Das Spektrum reicht da von überwiegend vegetarischer Kost bis hin zu nahezu ausschließlicher Ernährung von Fleisch oder Fisch. Bei den nomadisch lebenden Massai und den Turkana in Afrika ist sogar Milch das Hauptnahrungsmittel.
In der »artgerechten« Altsteinzeit gab es sicherlich viel mehr Bewegung unter freiem Himmel und zudem keine Pestizide und kein Mikroplastik. Um die Gesundheit der damaligen Wildbeuter war es dennoch erstaunlich schlecht bestellt, wie Studien gezeigt haben: Sie litten unter gut- und bösartigen Tumoren, vergrößerten Körperteilen (etwa Akromegalien der Extremitäten), Vitaminmangel oder -überschuss, Muskelentzündungen, Gicht, Bluterkrankungen, Arthritis, Wachstumsstörungen, Knochenmarkeiterungen, Hyperostosen (krankhafter Vermehrung von Knochensubstanz), Gelenkverformungen, Schleimhaut- und Wurzelentzündungen sowie Zahnerkrankungen einschließlich Karies, Zahnstein und Fehlbiss.
Wenn es so etwas wie eine »artgerechte« Ernährung des modernen Menschen überhaupt gibt, dann sind wir jetzt erst dabei, diese mühsam zu entwickeln. Nehls' Buch bietet dafür auch dankenswerterweise gute Anregungen – nebst einigen originellen Kochrezepten. Ungenießbar ist jedoch der gelegentlich recht selektive Umgang mit wissenschaftlichen Fakten sowie jene geradezu lächerliche Mythenpflege, wenn es um die vermeintlichen angeblich so »artgerechten« veganen altsteinzeitlichen Schlemmerorgien geht.
Nehls' »Formel« bietet empfehlenswertes Gesundheitskonzept; ob es aber auch ein Anti-Alzheimer-Rezept ist, erscheint fraglich. Das wird allenfalls die Zukunft zeigen. Ein gesundheitsbewusster Lebensstil ist sicherlich anzuraten, zweifelhaft bleibt allerdings die im Buch unterstellte Hauptwirkung.
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