Ein faszinierender Geheimbund
Den meisten Menschen ist wahrscheinlich nicht bewusst, wie viele geschichtsträchtige Personen Freimaurer waren und wie stark der Bund insbesondere die westlichen Gesellschaften prägte. Andere setzen Freimaurer wiederum mit Illuminaten oder einer jüdischen Weltverschwörung gleich. Der Londoner Historiker John Dickie räumt auf fast 500 Seiten mit allen Mythen auf, indem er sachkundig – und nicht ohne Witz – ihre Ursprünge erklärt, die im schottischen Steinmetzhandwerk des 18. Jahrhunderts liegen, das die bis heute gültigen Rituale inspiriert hat.
Eintauchen in die Geschichte des Geheimbunds
Dabei folgt der Autor den oft tragischen geschichtlichen Umwälzungen bis in die jüngste Vergangenheit. Einen Meilenstein markiert das Jahr 2010, als einer der ältesten freimaurerischen Dachverbände, die in Frankreich befindliche »Grand Orient« Loge, zum ersten Mal eine Frau aufnahm: Nach Jahrzehnten als Mitglied bekannte sich Olivia Chaumont zu ihrer Transidentität, ließ sich operieren und wurde so zur Vorreiterin für die Gleichberechtigung zwischen Frauen und Männern in der Freimaurerei.
Dickie geht dabei sowohl chronologisch als auch geografisch vor und versetzt den Leser in jedem Kapitel an einen neuen Ort mit einem dort herrschenden Konflikt. So findet man sich zum Beispiel im London des Jahres 1708 wieder, wo man die frühen Logen nach Pubs benannte, in denen sich die Brüder zum Besäufnis trafen. Zu dieser Zeit wurden die St. Paul Kathedrale und 150 weitere Kirchen wieder neu eröffnet, nachdem sie 42 Jahre zuvor im Großen Brand von London zerstört wurden, so wie vier Fünftel der damaligen Stadt. Einer der hauptverantwortlichen Architekten für den Wiederaufbau war der Freimaurer Sir Christopher Wren, der im Alter trotz seines Ruhms geschmäht wurde, weil er der falschen Partei angehörte.
Nach London floh auch ein gewisser Abé Augustin de Barruel vor der Französischen Revolution. In der englischen Hauptstadt schrieb er die frei erfundenen »Denkwürdigkeiten zur Geschichte des Jakobinismus« nieder, in denen er die Freimaurer für all das verantwortlich machte, weshalb er seine Heimat verlassen musste. Damit legte er den Grundstein für Verschwörungstheorien, die noch heute populär sind. Schon sie besaßen einen antisemitischen Kern, man warf Freimaurer und Juden gerne in einen Topf und sagte ihnen allerlei negative Machenschaften nach.
Leider haben diese frei erfundenen Behauptungen erst kürzlich wieder an Aktualität gewonnen. 2020 äußerte ein Demonstrant auf einer »Querdenken«-Demonstration, die Freimaurer hätten im 18. Jahrhundert nach und nach alle US-Bundesstaaten aufgekauft. Im gleichen Kontext behauptete der vegane Kochbuchautor und rechtsextreme Verschwörungsideologe Attila Hildmann, der Pergamonaltar auf der Museumsinsel in Berlin wäre der Thron Satans, wo unter der Regie Angela Merkels Menschenopfer dargebracht würden und Kinderblut getrunken würde.
Um die Vorurteile gegenüber dem Geheimbund aus dem Weg zu räumen, betont Dickie mehrfach, das Konzept der Freimaurerei basiere auf Brüderlichkeit, Tugend, Toleranz, sozialem Austausch und sozialer Absicherung. Er räumt aber ein, dass auch Organisationen wie der Ku-Klux-Klan oder die italienische Mafia »Freimaurer-DNA« in sich tragen. Der Klan ließ sich beispielsweise von den theatralischen Ritualen des Bunds, die 'Ndrangheta von der strengen Hierarchie inspirieren. Zudem war die kriminelle Abspaltung der Freimaurerei, die »Carboneria«, im 18. Jahrhundert ein Vorläufer der Mafia.
In Italien spielte sich darüber hinaus der letzte große Skandal der Freimaurerei ab. Der Kleidungsfabrikant Licio Gelli beschnitt in den 1970er Jahren die traditionsreiche Loge »Propaganda Due« um alle gängigen Rituale und verwandelte sie mit hunderten einflussreichen Mitgliedern aus Geheimdiensten, Verwaltung, Justiz und internationalen Konzernen in einen Marktplatz für Gefälligkeiten und kompromittierende Informationen.
Ein weiterer wichtiger Punkt in der Geschichte der Freimaurerei bildet der Kulturkampf der katholischen Kirche (insbesondere in Italien und Frankreich) gegen den Säkularismus und damit gegen den Geheimbund. Im 19. Jahrhundert war er so stark im säkularen Mainstream verankert, dass Papst Leo XIII. verkündete, die Freimaurerei sei ein Werkzeug Satans im Kampf gegen Gott und die Kirche. An dieser Einstellung hat sich bis heute nicht viel geändert. Aber nicht nur Katholiken hassten die Freimaurer. Auch Kommunisten und Muslime haben sie verboten; zudem haben Diktatoren wie Hitler, Mussolini und Franco deren Mitglieder gejagt und ermordet.
Wenig überraschend nehmen die USA einen großen Teil des Buchs ein. Immerhin war mit George Washington schon ihr erster Präsident Freimaurer – ihm sollten bis heute noch 13 folgen. Eine Besonderheit des Bunds in den Vereinigten Staaten ist die allgegenwärtige Trennung in Logen mit Mitgliedern weißer und schwarzer Hautfarbe. Diese Unterscheidung, die von Anfang an Bestand hat, verstößt dabei gegen die eigenen Prinzipien von Toleranz und Brüderlichkeit.
Zur Freimaurerei gibt es noch zahlreiche weitere Konflikte und skurrile Anekdoten. Der Autor kam zu diesem Thema, als er den Geheimbund einmal mit der Mafia verglich. Daraufhin wurde er zu einem Logentreffen eingeladen – und kam nicht mehr davon los. Dickie ist zwar kein Mitglied der Freimaurer, entwickelte sich aber zu einem weltweit geachteten Experten auf dem Gebiet, dem man seine Leidenschaft in jeder Zeile anmerkt.
Der Schreibstil spiegelt die Lust und Begeisterung am Erzählen des Autors wieder. Großes Vorwissen braucht man dabei nicht, denn Dickie beschreibt detailliert alle geschichtlichen Zusammenhänge – bis zu den Initiationsritualen, geheimen Handschlägen und Foltermethoden der spanischen Inquisitoren, die den Freimaurern ihre vermeintlichen Geheimnisse entlocken sollten.
Eine besondere Erwähnung verdient die Gestaltung des Buchs. Der Umschlag mit der filigranen Freimauersymbolik und die prächtigen Farbabbildungen im Innenteil hinterlassen genauso einen liebevollen Eindruck wie die Haltung des Autors zu dem Thema. Das macht das Werk zu einem perfekten Geschenk für alle Interessierten.
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