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Wir sind mehr als unser Gedächtnis

Wie wir uns etwas besser merken können und warum Vergessen überlebensnotwendig ist.

Nur wenige Krankheiten sind mit so großen Ängsten verknüpft wie die Demenz. Auch in Romanen und Büchern wird der Umgang mit der zerstörerischen Krankheit thematisiert, in besonders berührender Weise im Film »Still Alice – Mein Leben ohne gestern«, das auf dem gleichnamigen Roman der US-amerikanischen Neurologin Lisa Genova beruht. Julianne Moore, die für ihre Hauptrolle einen Oscar erhielt, spielt darin die brillante Linguistin Alice, die mit Anfang 50 an einer frühen Form der Alzheimerdemenz erkrankt. Eindrücklich schildert der Film ihren Kampf gegen das Vergessen, den die hochintelligente Frau am Ende verliert – wie alle Alzheimerpatienten. In ihrem neuen Sachbuch »Die Gabe der Erinnerung und die Kunst des Vergessens« erklärt Lisa Genova, wie unser Gedächtnis funktioniert, und gibt wertvolle Tipps, wie es sich leistungsfähig erhalten lässt.

Die Autorin beginnt mit einer beruhigenden Erkenntnis: Es ist kein Zeichen von Demenz, wenn die Gedächtnisleistung mit zunehmendem Alter abnimmt. Dass wir uns Namen schlechter merken können oder vergessen, warum wir in einen Raum gegangen sind, ist ganz normal. Einer der häufigsten Gründe dafür, dass man sich nicht erinnern kann, ist aber gar nicht Vergesslichkeit, sondern mangelnde Aufmerksamkeit: wenn man sich etwas nicht richtig eingeprägt hat und gar keine Erinnerungsspur angelegt wurde. Besonders gut merken wir uns dagegen Dinge, Menschen oder Situationen, die für uns eine emotionale Bedeutung haben. Je wichtiger eine Sache für uns ist und je mehr Aufmerksamkeit wir darauf richten, desto besser können wir sie im Gedächtnis behalten.

Gründe, warum einmal Erinnertes später nicht abgerufen werden kann, gibt es viele. Wenn uns beispielsweise ein Wort buchstäblich auf der Zunge liegt, kommen wir oft umso weniger darauf, je mehr wir darüber nachdenken. Der Grund dafür ist, dass eine erste falsche Assoziation durch weiteres Nachdenken zunehmend gestärkt wird. Das Gedächtnis wird sozusagen auf eine falsche Fährte gelockt und dadurch blockiert. Wenn wir es schaffen, die Gedanken loszulassen, fällt uns die gesuchte Information in der Regel bald mühelos wieder ein.

Auch mangelnder Schlaf und anhaltender Stress sind Gründe, warum das Gedächtnis manchmal nicht richtig funktioniert. Genova plädiert dafür, Erinnerungshilfen zu nutzen – also Notizzettel, Kalendereinträge, Merktricks oder bestimmte Apps auf dem Smartphone.

Zwei Seiten der Medaille

Wie im Buchtitel angekündigt, ist die Erinnerung nur eine Seite der Medaille. Vergessen zu können, ist für unsere Überlebensfähigkeit genauso wichtig, schreibt die Autorin. Denn wenn wir alles im Gedächtnis behielten, wären wir nicht mehr in der Lage, Wichtiges von Unwichtigem zu unterscheiden. Oder könnten Sie sich merken, wo Sie heute Ihr Auto am Supermarkt geparkt haben, wenn Sie noch alle vorherigen Parkplätze dort im Gedächtnis hätten? Nicht vergessen zu können, kann eine große Bürde sein. Die Neurologin verdeutlicht das durch Beispiele von Menschen, die sich an jedes noch so unwichtige Detail ihres Lebens erinnern.

Auch wenn ihr Buch kein Ratgeber ist, enthält es viele wertvolle Tipps, wie sich die Gedächtnisleistung bis ins hohe Alter verbessern lässt. Diese sind am Ende noch einmal übersichtlich zusammengefasst. Genova plädiert dafür, das Gedächtnis einerseits ernst zu nehmen und sich gut darum zu kümmern, ihm aber andererseits nicht zu viel Bedeutung beizumessen. Wir sind mehr als unser Gedächtnis, und selbst Patienten mit Alzheimer können noch immer wertvolle zwischenmenschliche Beziehungen pflegen, schreibt sie. Was für eine tröstliche Botschaft für alle, die hin und wieder mit ihrem Gedächtnis hadern!

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