Ein Krimi der Mathematikgeschichte
In der Springer-Buchreihe "Vom Zählstein zum Computer", herausgegeben von der Projektgruppe "Geschichte der Mathematik" der Universität Hildesheim, sind mehrere äußerst lesenswerte Bände erschienen – zuletzt das Werk "3000 Jahre Analysis" (2011, Rezension hier). Andere Werke thematisierten "4000 Jahre Algebra" (2014) oder "5000 Jahre Geometrie" (2001). Auch das vorliegende Buch, neu in der Reihe, erweist sich als äußerst lohnende Lektüre. Es sei allen empfohlen, die sich allgemein für die Geschichte der Wissenschaften und speziell für die der Mathematik interessieren, und wird dem umfassenden Anspruch seines Untertitels "Geschichte – Kulturen – Menschen" in jeder Hinsicht gerecht.
Dem Autor Thomas Sonar, Professor für Technomathematik an der TU Braunschweig, ist ein wunderbares, sehr gut lesbares Buch gelungen. Schon äußerlich besticht es mit seiner ansprechenden Gestaltung, vor allem mit seiner unglaublichen Fülle an meist farbigen Bildern. Dazu gehören Porträts, Dokumente, Briefmarken mit den Konterfeis von Wissenschaftlern und anderes.
Buch mit Vorgeschichte
Sonar hatte bereits in seinem vorangegangenen Werk "3000 Jahre Analysis" bewiesen, dass er die Geschichte des Prioritätsstreits kenntnisreich und ausgewogen beschreiben kann. Mehr als 70 Seiten hatte er damals den Kontrahenten Gottfried Wilhelm Leibniz (1646-1716) und Isaac Newton (1643-1727) sowie ihrer Auseinandersetzung gewidmet. Deshalb ist die Angabe des Verlags, das vorliegende Buch stelle "...erstmalig die Geschichte des berühmten Prioritätsstreits [...] um die Entdeckung der Differenzial- und Integralrechnung.." dar, etwas irreführend. Sonar selbst nennt allein im Vorwort drei lesenswerte Publikationen, die in den zurückliegenden Jahrzehnten zu diesem Thema erschienen sind.
Zweifellos aber ist "Die Geschichte des Prioritätsstreits zwischen Leibniz und Newton" als außergewöhnlich zu bezeichnen. Es handelt sich um ein spannendes und souverän geschriebenes Buch mit 11 Kapiteln nebst Epilog und Nachwort.
Zunächst führt der Autor in die wesentlichen mathematischen Grundlagen ein. Knapp erläutert er dabei den entscheidenden, revolutionären Schritt von der Idee der "Indivisiblen" (Unteilbaren) zu jener der "Infinitesimalen" (beliebig Kleinen). Er lässt Newton zu Wort kommen mit dessen berühmtem Spruch "Wenn ich weiter sehen konnte, so deshalb, weil ich auf den Schultern von Riesen stand", und belegt diesen, indem er die politische Lage Englands im 17. Jahrhundert umreißt und wichtige Vorgänger Newtons porträtiert: die Mathematiker John Wallis etwa (1616-1703) und Isaac Barrow (1630-1677). Sodann beschreibt Sonar ausführlich die zeitgenössischen politisch-kulturellen Entwicklungen in Frankreich und den Niederlanden, und widmet sich den "Riesen" Blaise Pascal (1623-1662) und Christiaan Huygens (1629-1695).
Zerrüttetes Verhältnis
Nach diesen einleitenden Kapiteln schreitet der Autor zu den eigentlichen Protagonisten fort. Wir erfahren, wie Newton in seinen "Wunderjahren" 1664-1666 die Theorien zur Fluxionenrechnung und zum Licht entwickelte, und wie zeitgleich der Jurist und Diplomat Leibniz zur Mathematik fand. Zunächst pflegten die beiden noch freundliche Korrespondenz miteinander, wurden dann aber durch andere in einen Streit um die Entdeckung der Differenzial- und Integralrechnung hineingerissen, den sie mit außergewöhnlicher Härte ausfochten. Dass dieser "Krieg" sogar nach ihrem Tod weiterging und bis ins 19. Jahrhundert hinein die Entwicklung der Wissenschaften prägte, legt Sonar ebenso detailliert wie kenntnisreich dar.
Im Epilog schildert der Autor, wie sich seine eigene Meinung über die beiden Kontrahenten im Laufe seiner Recherchen zum Buch verändert hat, und appelliert an die Forschenden von heute, ohne Geheimniskrämerei, Vorurteile und Eifersüchteleien für den Fortschritt der Wissenschaften zu sorgen.
Das Buch präsentiert sich sehr leserfreundlich. Selbst wenn man die Lektüre länger unterbrechen muss, findet man schnell wieder hinein – mit Hilfe zeitlicher Übersichten und zusammenfassender Abschnitte am Ende der einzelnen Kapitel. Sonar belegt seine Darstellungen mit umfangreichen Zitaten in den Originalsprachen und deren akribischer Übertragung ins Deutsche. Freude bereiten auch die letzten fünfzig Seiten mit hilfreichen Literaturhinweisen, einem ausgezeichneten Abbildungsverzeichnis sowie einem ausführlichen Personen- und Sachregister.
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