Multiplikation der Angst
Angst ist seit jeher als Warnsystem fest in der menschlichen Psyche verankert – ohne sie wäre ein Überleben unserer Spezies unmöglich gewesen. Jedoch haben sich die Qualität und der Fokus der menschlichen Ängste seit der Urzeit stark verändert. Dem liegt laut dem Soziologen Roland Paulsen nicht zuletzt die Tatsache zu Grunde, dass der Mensch mit der Tradition des Jagens und Sammelns brach. Der Umstieg auf den Ackerbau trug dazu bei, dass für die Zukunft und für etwaige Missernten vorgesorgt werden musste, statt sich im Hier und Jetzt auf das verfügbare Nahrungsangebot zu konzentrieren. Immer wieder macht Paulsen in seinem Werk darauf aufmerksam, dass zu viel Nachdenken eine Wurzel des Unglücks darstellt.
Was ins Unglück treibt
In der modernen Welt scheinen sich Ängste und psychische Probleme zu multiplizieren, auch weil Vorausschauen und Vorsorgen unabdingbar geworden ist. Diese Tatsache führt der Autor unter anderem auf unseren Wohlstand zurück: So treten laut Paulsen in Hochlohnländern etwa 17 von 18 psychischen Störungen häufiger auf als in Niedriglohnländern. Mit solchen Statistiken und Studien untermauert der Autor, der als außerordentlicher Professor für Soziologie an der Universität Lund (Schweden) tätig ist, was die Menschen der Neuzeit ins Unglück treibt. Er schreckt beim Thema Suizid nicht davor zurück, Auszüge aus Abschiedsbriefen zu veröffentlichen – relativ früh im Buch, was den einen oder anderen Leser doch verstören könnte. Auch mit Tabus belastete Themen spricht er an und lässt sogar Betroffene zu Wort kommen, zum Beispiel Personen, die vom Zwangsgedanken heimgesucht werden, pädophil zu sein.
»Die große Angst« liest sich wie eine Assoziationskette, bei der der Autor mühelos von einem Thema zum nächsten springt und oft den Blick über den Tellerrand wagt. So führen ihn seine Gedankensprünge mitunter zu Themen wie Religion, Aggression oder Psychedelika. Er verknüpft Erkenntnisse aus verschiedensten Disziplinen wie der Philosophie oder Wirtschaft miteinander und lässt persönliche Berichte von Menschen mit psychischen Störungen einfließen. Besonders interessant ist, dass Paulsen auch Koryphäen wie Max Weber, Kurt Gödel, Carl Gustav Jung oder Sigmund Freud in einem anderen Licht darstellt – nämlich als Menschen, die ebenfalls mit so manchem (psychischen) Problem zu kämpfen hatten. Das wirft ein neues Licht auf ihre Theorien und hilft beim Einordnen derselben in einen größeren Kontext.
Psychiatriekritik mit fadem Beigeschmack
Zuletzt nimmt der Autor, der auch Fellow des Stockholm Centre for Organizational Research ist, kein Blatt vor den Mund, was psychiatrische Diagnosen und deren Behandlung betrifft. Er listet Evidenz auf, wie selten sich die Ergebnisse psychologischer Experimente reproduzieren lassen (nur in vier von zehn Fällen) und dass die psychosoziale Versorgung in einem Land scheinbar keinen Effekt auf die psychische Gesundheit der Bewohner hat. Seine Kritikpunkte hinterlassen jedoch einen faden Beigeschmack. Denn er bietet keine ernst zu nehmenden Alternativen zu den erprobten Konzepten der Psychiatrie und Psychotherapie. Zwar ist es ein schöner Gedanke, sich wie von ihm vorgeschlagen mit seiner psychischen Erkrankung auszusöhnen und diese zu akzeptieren, statt gegen sie anzukämpfen. In der Realität tragen Betroffene allerdings oft nicht alle Ressourcen in sich, um ihre Lage zu verbessern: Sie sind dann auf Hilfe von außen angewiesen. Daher sollte man einige Passagen eher als Einladung zum Philosophieren denn als tatsächlichen Lösungsansatz betrachten.
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