Hysterische Zeiten
Am Anfang des »Falls Lisa« stand die erfundene Entführung und Vergewaltigung eines 13-jährigen russischstämmigen Mädchens in Berlin durch angeblich südländisch aussehende Männer. Der Zeitpunkt war brisant: Anfang 2016 gipfelte die damalige Massenflucht nach Europa und aufgrund des Ukrainekonflikts steckten die deutsch-russischen Beziehungen in einer Krise. Der »Fall Lisa« sorgte schnell für Wirbel in den »sozialen« und konventionellen Medien: Er schürte flüchtlingsfeindliche Hetze und als Antwort darauf nicht minder aggressive Gegenreaktionen; der übliche Lagerkrieg setzte ein; ausgleichende oder warnende Stimmen drangen, wie so oft, kaum durch. Zwar kam heraus, dass sich das Mädchen wegen schulischer Probleme einfach nicht nach Hause getraut hatte, weshalb die Eltern eine Vermisstenanzeige aufgegeben hatten. Doch am Ende mischte sogar noch der russische Außenminister Sergej Lawrow mit, was die diplomatischen Spannungen zwischen Deutschland und Russland weiter verschärfte.
Es sind Fälle wie dieser, die den Tübinger Medienwissenschaftler Bernhard Pörksen von der »großen Gereiztheit« der modernen Mediengesellschaft sprechen lassen. Dabei lehnt er sich an eine Kapitelüberschrift aus Thomas Manns »Der Zauberberg« (1924) an, die sich auf die blank liegenden Nerven am Vorabend des Ersten Weltkriegs bezieht. Als wesentliche Ursachen dieser Gereiztheit sieht Pörksen das »Wegbrechen ziviler Diskursfilter« und die mediale Demontage von Autoritäten. Ganze Gesellschaften würden in Dauererregung, Hysterie-Spiralen und Orientierungslosigkeit getrieben, weil sie »ungefiltert der Gesamtgeistesverfassung der Menschheit oder den Einfällen eines delirierenden amerikanischen Präsidenten ausgesetzt« würden. Niemand wisse mehr, wie mit der medialen Kakophonie der irrelevanten Nachrichten und Meinungsbekundungen, des schrillen Narzissmus und der ständigen Manipulationen umzugehen sei, wem und vor allem was man noch glauben könne. Die permanente Konfrontation mit den Befindlichkeiten anderer und die scheinbare Gleichrangigkeit verschiedener Wahrnehmungsweisen bezeichnet Pörksen als den »Clash of Codes«. Der Menschheit attestiert er, in einer Phase der »mentalen Pubertät« zu leben.
»Skandal«-Fehltritte gänzlich unbekannter Personen
Pörksen postuliert fünf Krisenzonen, nämlich die
- der Wahrheit,
- des Diskurses über Konsensfähiges,
- der wegbrechenden Autoritäten,
- der weltfremden Behaglichkeit, etwa in den Filterblasen der Social Media,
- der Reputation – damit meint er beispielsweise die Skandalisierung von Fehltritten ansonsten gänzlich unbekannter Personen. »Shitstorms«, zum Beispiel ausgelöst durch unbedachte Postings oder unvorteilhafte Selfies, haben bereits ganze Existenzen ruiniert.
Die Lösung sieht Pörksen in der Utopie einer »redaktionellen Gesellschaft«, zu deren Grundwerten die Wahrheitsorientierung, die Skepsis, die Transparenz medialer Arbeitsweisen sowie die Verständigungs- und Diskursorientierung gehören. Darunter versteht er neben der Offenheit für Anderes auch ein minimales Verständnis für gegnerische Positionen. Das bedeute keineswegs, mit diesen übereinzustimmen, stelle jedoch die Grundlage dar, um überhaupt noch miteinander sprechen zu können. Der Autor schlägt ferner ein eigenes Schulfach zur Medienerziehung sowie die Transparenzpflicht der Betreiber »Sozialer Medien« vor. Diese sieht er ebenso in der Pflicht wie die Nutzer, die Akteure im Bildungsbereich, die Politiker und die Journalisten.
Zwar bildet das lesenswerte und ansprechende Buch die mediale Gesellschaft im 21. Jahrhundert aufschlussreich ab und eignet sich für alle Interessierten, die auf medienwissenschaftlicher Ebene einen Einstieg in das komplexe Thema suchen. Doch so richtig Pörksens Analyse und so begrüßenswert seine Lösungsansätze sind: Neu sind sie nicht. So bezieht er sich ausdrücklich auf bereits existierende journalistische Ethikkodizes in Europa und den USA. Sicher ist es berechtigt, deren Umsetzung immer wieder einzufordern. Doch sollten seinen Forderungen auch konkrete Vorschläge folgen, wie sich etwa eine notfalls gesetzlich erzwungene Transparenzpflicht der Social-Media-Betreiber in der Praxis umsetzen lässt. Dazu wirken seine Forderungen nach Ombudsgremien oder Plattform-Räten eher oberflächlich.
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