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»Die große Odyssee«: Eine neue Geschichte des Menschen

Die Populationsgenetik hat sich zum Königsweg der biologischen Geschichtsschreibung entwickelt. Lluís Quintana-Murci präsentiert aktuelle Ergebnisse.
Aufschlussreiche Spuren

Heute weiß die moderne Naturwissenschaft: Wir kommen aus Afrika. Dort steht die Wiege der Menschheit, und von dort haben sich unsere Vorfahren über die Erde ausgebreitet. Das ist, gemessen an historischen Zeitskalen, lange her, ging aber, verglichen mit geologischen und biologischen Veränderungen, mit fast explosiver Schnelligkeit vonstatten. Vor rund 60 000 Jahren begann die Migration des Homo sapiens, des modernen Menschen; vor etwa 50 000 Jahren erreichte die »große Odyssee« Europa, Asien und Australien, dann vor weniger als 30 000 Jahren Amerika. Und erst vor einem Jahrtausend besiedelten letzte Nachzügler die entlegensten Inseln des Südpazifik.

In Europa stieß der Homo sapiens auf einen schon viel früher aus Afrika eingewanderten und heute ausgestorbenen Verwandten, den Neandertaler. In Asien wiederum begegneten unsere – biologisch gesehen unmittelbaren – Vorfahren einer weiteren Menschenart, von deren Existenz man erst seit wenigen Jahren überhaupt etwas weiß: dem Denisova-Menschen.

Die Populationsgenetik, die solche Einsichten ermöglicht, ist eine junge Wissenschaft, die aus der Analyse des Erbguts auf die biologische Verwandtschaft von Tier- oder Menschengruppen schließen kann. Durch die DNA-Sequenzierung eines in der Denisova-Höhle entdeckten Fingerknöchelchens ließ sich herausfinden, dass es zu einer separaten, mit dem Neandertaler verwandten Menschenart gehört. Je mehr Gene zwei Populationen gemeinsam haben, desto enger sind diese miteinander verwandt – was wiederum heißt: desto kürzer liegt ihre evolutionäre Differenzierung zurück. Somit ist die Populationsgenetik sozusagen der Königsweg zur biologischen Geschichtsschreibung. Sie vermag anzugeben, wann Populationen neue Regionen erschlossen und wann sie sich aufgespaltet haben, wann sie anderen Gruppen begegnet sind und sich mit ihnen vermischt haben.

Ein führender Experte auf diesem Gebiet hat das vorliegende Buch verfasst. Lluís Quintana-Murci ist ein spanisch-französischer Genetiker, der am Collège de France sowie am Institut Pasteur auf dem Gebiet der Humangenomik forscht und lehrt. Mehrfach zitiert der Autor in seinem Buch den Ausspruch des US-Genetikers Theodosius Dobzhansky: »Nichts in der Biologie macht Sinn, außer im Licht der Evolution.« Auch die Populationsgenetik beruht auf der darwinschen Evolutionslehre: Im Wechselspiel von Mutation und Selektion etablieren sich genetische Veränderungen. Darum serviert Quintana-Murci im ersten Teil des Buchs einen Schnellkurs in Genetik; in rascher Folge lernt man Begriffe wie »Genfrequenz« oder »Genfluss« kennen. Das gelingt dem Autor souverän – allerdings vermisst der Laie ein Stichwortregister, das ihm helfen könnte, im Verlauf der Lektüre die Definitionen der Fachbegriffe noch einmal nachzuschlagen.

Jeder Mensch ist ein Mischling

In den folgenden Abschnitten zeichnet der Autor die populationsgenetische Geschichte von Eroberungen und Besiedlungen in Afrika, Europa, Asien und Amerika in immer wieder aufschlussreichen Details nach. So ist der Grad der Durchmischung unterschiedlicher Populationen in Südamerika viel größer als in Nordamerika, denn die iberischen Siedler in Lateinamerika bauten im Lauf der Kolonialgeschichte weniger hohe soziale Schranken zwischen Europäern, Einheimischen und Afrikanern auf, während die Briten in Nordamerika viel strenger auf Segregation bedacht waren.

In diesem Zusammenhang betont Quintana-Murci auch: So etwas wie genetisch definierbare »Rassen« gibt es nicht; jeder Mensch ist ein Mischling, das Resultat einer langen, komplizierten Geschichte von Migration und Verschmelzung. Europäer tragen ein paar Prozent Neandertaler-Gene mit sich, Asiaten genetische Spuren des Denisova-Menschen. Solche Erkenntnisse helfen dem Autor bei der Arbeit an seinem Forschungsschwerpunkt: der populationsgenetischen Gesundheitsforschung.

Wie sehr diese im Fluss ist, zeigt eine Entdeckung, die das (im französischen Original 2021 erschienene) Buch noch als bloße Vermutung nebenbei anführt. Inzwischen scheint gesichert, dass Multiple Sklerose einst durch positive Selektion entstand: Als die Menschen von Nomaden zu Bauern wurden und der sesshafte Lebensstil sie mit Abfällen, Fäkalien und einer Vielfalt von Krankheitserregern konfrontierte, dürfte eine verstärkte Immunantwort einen besseren Schutz bedeutet haben – ein Mechanismus, der heute in unserer hygienischen Umwelt die Autoimmunkrankheit hervorzubringen scheint. Unser Immunsystem ist gewissermaßen ein populationsgenetisches Schlachtfeld. Es speichert vergangene Auseinandersetzungen mit Erregern und wappnet sich damit gegen deren Wiederkehr. Es muss aber auch flexibel bleiben, stets bereit sein für die Abwehr neuartiger Angriffe. Dafür ist unsere Abstammung aus einer langen Kette von genetischen Vermischungen von größtem Vorteil.

Quintana-Murci wirft schließlich noch einen Blick in die Zukunft der Medizin. Je mehr wir von den Feinheiten des Immunsystems verstehen, desto besser können wir dem individuellen Leiden mit einer personalisierten Medizin begegnen. So setzt sich unsere Entwicklung in einer kulturell geformten und mit zivilisatorischen Problemen konfrontierten Umwelt weiter fort. Abschließend betont Quintana-Murci, wie sehr die Populationsgenetik unser anthropologisches, historisches und medizinisches Wissen bereichert. Er schließt mit dem Satz: »Ohne Diversität, ohne Vielfalt und ohne Unterschiede gibt es weder Evolution noch Fortschritt, und das in jeglicher Hinsicht.«

Insgesamt ein ungemein ergiebiges, durch die Aktualität des Forschungsfelds spannendes Buch. Nur selten stört der Fachjargon, wenn etwa »Septikämie« statt »Blutvergiftung« verwendet wird. Neben dem Register vermisst man auch präzise Quellenverweise, die abschließende Liste mit einschlägigen Fachartikeln hilft hier nur bedingt. Aber: Das sind nur kleine Schönheitsfehler eines alles in allem großartig gelungenen Werks.

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