»Die Illusion der Materie«: Das Universum: alles oder nichts
Vorweg: Der Buchtitel ist irreführend – keineswegs wird hier Materie generell als Schimäre entlarvt! Vielmehr wird das, was die aktuelle Forschung über die Grundsubstanz der Natur herausgefunden hat, mit überholten Vorstellungen verglichen.
Guido Tonelli, Experimentalphysiker am europäischen Kernforschungszentrum CERN, war an der Entdeckung des legendären Higgs-Bosons beteiligt, obendrein ist er ein glänzender Erzähler. Er versteht es, mit Geschichten über die altgriechischen und römischen Atomisten zu unterhalten, deren mechanistische Naturauffassung, es gebe nichts als Atome und leeren Raum, den antiken Großphilosophen Platon und Aristoteles widerstrebte.
In posthume Ungnade fiel bei der katholischen Kirche insbesondere der Römer Lukrez mit seinem materialistischen Lehrgedicht »De rerum natura« (»Von der Natur der Dinge«). Der Text wurde nur überliefert, weil ein neugieriger Kopist eines der wenigen nicht vernichteten Exemplare in der Klosterbibliothek entdeckt und eifrig abgeschrieben hatte. Als Giordano Bruno, von Lukrez inspiriert, das Modell eines unendlichen Alls mit unzähligen bewohnten Welten entwarf, endete er auf dem Scheiterhaufen.
Als kunstsinniger Italiener verweist der Autor gern auf Gemälde und zitiert literarische Werke, um die früher selbstverständliche Durchdringung von musischer Kultur und Naturforschung zu illustrieren. Botticellis »Frühling« feiert das alljährliche Auferstehen der Natur. Dantes »Göttliche Komödie« beschreibt die Liebe – anknüpfend an den altgriechischen Dichter Hesiod – als alles durchdringende natürliche Anziehung, was wiederum Newton zu seiner Fernwirkungstheorie der Schwerkraft inspirierte. Anlässlich der unterschiedlichen Aggregatzustände der Materie kommt Tonelli auf Correggios Gemälde »Jupiter und Io« zu sprechen; es zeigt, wie der mächtige Gott sich als dunkle Wolke tarnt, um die unschuldige Priesterin Io zu umarmen.
Nach der eleganten Einführung in die Begriffsgeschichte der »Materie« plaudert Tonelli aus der Schule. Er berichtet, wie eine internationale Kollaboration von Tausenden Experten, die er als Sprecher koordinierte, in mühsamen Datenanalysen aus den Trümmern unzähliger Teilchenkollisionen die Spuren eines lange gesuchten Partikels herausfilterte. Als Daten des zweiten großen Detektors am CERN-Beschleunigerring diesen Befund bestätigten, stand fest: Mit dem Higgs-Boson, das subatomaren Partikeln ihre Masse verleiht, war endlich der letzte fehlende Baustein im Standardmodell der Teilchenphysik gefunden.
Dunkle Energie: die große Unbekannte
Anschließend an diesen Einblick in den enormen technischen, energetischen und personellen Aufwand heutiger experimenteller Grundlagenphysik, wendet sich der Autor dem daraus resultierenden Bild des Kosmos zu. Die vermeintlich unteilbaren Atome haben sich längst als komplizierte Gebilde aus subatomaren Partikeln erwiesen, die sich zum Standardmodell ordnen lassen. Darin lässt sich das meiste dessen, was wir über die Materie wissen, übersichtlich anordnen.
Aber längst nicht alles: Warum fügen sich die Materieteilchen zu drei »Generationen« oder »Familien«? Warum sind deren Massen so unterschiedlich? Und vor allem: Warum enthält das Modell zwar Wechselwirkungsteilchen für die starke, die schwache und die elektromagnetische Kraft – aber keine Spur eines Quantenteilchens der Schwerkraft?
Im Großen birgt der Kosmos auch abgesehen vom Fehlen einer Quantentheorie der Gravitation weitere Geheimnisse. Aus dem Rotationsverhalten der Galaxien lässt sich auf eine unsichtbare Dunkle Materie schließen: Sie prägt die großräumige Struktur von Galaxien, Galaxienhaufen und Superhaufen. Für deren Erforschung gab es Nobelpreise – allerdings, wie Tonelli betont, ungerechterweise nicht für die Frau, die den ersten Nachweis führte: Vera Rubin. Außerdem wird das All, beschleunigt von einer rätselhaften Kraft, seit dem Urknall auseinandergetrieben. Diese Dunkle Energie ist die große Unbekannte der Kosmologie.
Somit unterscheidet sich das moderne Bild der Materie gründlich vom antiken Atomismus, aber auch vom klassischen Materialismus, der, wie Tonelli abschließend erläutert, in der Sowjetunion unter Stalin zur Staatsdoktrin erhoben wurde und dort die Akzeptanz von Quanten- und Relativitätstheorie vorübergehend hemmte.
Zum Grundstoff des Kosmos gehören nach heutigem Verständnis aber nicht nur Materie und Energie als austauschbare Größen, sondern auch Raum und Zeit. Letztere gelten, wie Tonelli hervorhebt, nicht mehr wie noch bei Newton als bloße Messgrößen für die Bewegungen materieller Körper, sondern – in Form der gravitativ gekrümmten Raumzeit – als integraler Bestandteil der Natur. Mit dem Urknall entstand der Kosmos spontan als eine Quantenfluktuation des Vakuums – quasi aus dem Nichts. Dieses vielfältige »Alles oder Nichts« ist an die Stelle der klassischen Vorstellung der Materie getreten.
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