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»Die Klinik der Würde«: Jenseits von Sonntagsreden

Sie ist als Menschenwürde im Grundgesetz verankert, aber welche Rolle spielt das Konzept der Würde heute wirklich? Cynthia Fleury beleuchtet den Begriff en détail.

Der Begriff der »Würde« hat in der Philosophie immer wieder mal Konjunktur. In der Antike und besonders im Römischen Reich brachten Philosophen, Rhetoriker und Politiker die »dignitas« vor allem mit Prestige und sozialem Stand in Verbindung. Im Humanismus und dann insbesondere im 18. Jahrhundert setzte sich immer mehr das Konzept einer universellen Menschenwürde durch, wie es auch im bundesdeutschen Grundgesetz verankert ist.

In »Die Klinik der Würde« nimmt sich Cynthia Fleury des Begriffs an. Die Autorin ist Philosophin, Psychoanalytikerin und Professorin am Conservatoire national des arts et métiers, einer prestigeträchtigen Pariser Hochschule. Sie argumentiert, Würde habe seit dem Beginn der Moderne einen eher schweren Stand. Im Kontext von Industrialisierung und modernem Kapitalismus seien unwürdige Zustände oft nicht bekämpft, sondern umgedeutet worden in eine »zu bestehende[…] Prüfung«. Dies sei besonders im Fahrwasser des calvinistischen Protestantismus geschehen, der, so die berühmte Deutung Max Webers, durch das Konzept der Gnadenwahl der Verbreitung des modernen Kapitalismus Vorschub leistete. Dieses besagt, dass Gott jeden Menschen von vornherein zu Heil oder Verdammnis bestimmt hat – und der irdische Erfolg des Einzelnen einen Hinweis darauf gibt, welches göttliche Los ihm zugedacht wurde.

Im 21. Jahrhundert taucht die Würde laut Fleury hauptsächlich als abstraktes Konzept in Debatten auf, kaum aber als etwas, dessen praktische Umsetzung im Vordergrund steht. Die Autorin selbst vertritt demgegenüber die Position der so genannten Care-Ethik, einer moral-, politik- und sozialphilosophischen Strömung, der zufolge Politik in erster Linie eine Instanz der Fürsorge sein sollte; ihre höchste Aufgabe sei es, im ganz praktischen Sinn für die Menschen zu sorgen. Diese Interpretation von Würde sei allerdings, so Fleury, seit geraumer Zeit aus dem Blick geraten.

Methodische Vielfalt

Fleury beleuchtet ihr Thema in sechs Kapiteln. Sie reflektiert es etwa aus historischer Perspektive oder widmet sich den systematischen Schwierigkeiten, die sich ergeben, wenn Würde in wirtschaftlichen Zusammenhängen definiert werden soll. Kritische Töne schlägt die Autorin gegenüber dem Altenpflegesystem an. Dessen Institutionen sind im Alter für ein Leben in Würde bisweilen unabdingbar, werden diesem Anspruch aber oft nicht ansatzweise gerecht, so Fleury. Die Autorin beleuchtet hier auch intensiv das Problem der »dark care« – dem unbestreitbaren Abhängigkeitsverhältnis, in das sich ein Mensch, der Fürsorge nötig hat, oft begibt.

Nun ist es nicht so, als hätte es in den letzten Jahren keine relevanten Werke zu Themen wie Würde oder Fürsorge gegeben. Was das Buch »Die Klinik der Würde« allerdings auszeichnet, ist seine besondere Mischung aus Moralphilosophie, politischer Philosophie, kritischer Soziologie und verschiedenen Ansätzen der Psychoanalyse. So nutzt die Autorin – ähnlich wie der slowenische Philosoph Slavoj Žižek – Lacans RSI-Register, das »Reales«, »Symbolisches« und »Imaginäres« als Ebenen menschlicher Erfahrung unterscheidet. Fleury analysiert mit seiner Hilfe, woran praktische Lösungen bestimmter Probleme im Kontext von Würde scheitern. Diese methodische Vielfalt und der klare Stil machen das 150 Seiten umfassende Buch zu einer Empfehlung für jeden, der einen etwas anderen Ansatz zu diesem wichtigen Thema kennenlernen möchte.

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