Formgebung und Belastbarkeit
Das Bild auf dem rückseitigen Buchdeckel, das Claus Mattheck zeigt, passt ohne Weiteres zu einem wilden Naturburschen, der unermüdlich, stets auf der Suche nach besonders eindrucksvollen Baumformen, im Wald unterwegs ist. Zugleich ist der mittlerweile 70-jährige Mattheck Professor für Biomechanik am Karlsruher Institut für Technologie, und die Aufzählung der Ehrungen für seine wissenschaftlichen Leistungen füllt den ganzen Rest der Buchrückseite.
Am Anfang seiner Forschungen stand tatsächlich die Beobachtung der Bäume. Durch Eigengewicht, Winddruck, Verletzungen und insbesondere durch vom Abbruch bedrohte Äste gerät ein Baum an charakteristischen Stellen unter Spannung. Die Kräfte, die ihn auseinanderzureißen drohen, steigern sich zu Spitzenwerten etwa dort, wo ein Ast oder eine Wurzel am Stamm ansetzt. Die Mechaniker nennen eine solche Stelle, an der die Kontur des Gesamtgebildes einen Knick nach innen macht, eine Kerbe.
Das Runde ins Eckige
Auf solche Spannungsspitzen reagiert ein vitaler Baum mit verstärktem Wachstum. Dadurch füllt er die Kerbe auf, die Kontur wird runder, und die Aufgabe, den Baum zusammenzuhalten, verteilt sich auf mehr Material, was im Endeffekt die Spannung mindert.
Mechanische Bauteile haben im Prinzip dasselbe Problem. Wo beispielsweise eine rotierende Stange fest mit einem Zahnrad verbunden ist, liegt eine Kerbe. Wird die Stange auf Biegung belastet, bricht sie am ehesten an dieser Stelle. Leider kann sie nicht an Material zulegen wie ein Baum. Matthecks Idee lautete daher, ersatzweise ein Computermodell des Bauteils wachsen zu lassen, und zwar so, wie es die Bäume machen. Das gelang ihm, indem er ein Standardverfahren, die Methode der finiten Elemente, geeignet modifizierte.
Mit seiner Methode hat Mattheck ungezählte Bauteile optimiert, und zwar nicht nur durch Hinzufügen, sondern auch durch Weglassen von Material, das keine Spannung zu ertragen hat und daher entbehrlich ist. Dabei sind ihm, ebenso wie den echten Bäumen, immer wieder dieselben optimalen Formen untergekommen. Heute kann er auch ohne aufwändige Berechnungen aus Erfahrung sagen, wie das optimierte Bauteil ungefähr aussehen wird.
Ähnliche Funktion, ähnliche Form
Im vorliegenden Buch bringt Mattheck diese Erfahrungen mit einer geradezu überbordenden Fülle an Bildern zu Papier. Stupsi, ein gezeichnetes Maskottchen, das der Autor schon in früheren Büchern eingeführt hat, demonstriert mit dem eigenen Körper die angreifenden Kräfte und erlaubt sich nebenher diesen oder jenen kleinen Spaß. Viel Aufwand treibt Mattheck für den Nachweis, dass sich dieselben Formen an den verschiedensten Stellen in der belebten wie unbelebten Natur wiederfinden – bei den "Lebenden und den Toten", wie Mattheck in scherzhafter Anspielung an die Bibel formuliert.
An dieser Stelle wird es problematisch. Unter den allgegenwärtigen Gestalten steht an erster Stelle eine, die Mattheck "Zugdreieck" nennt. Denken Sie an eine Kerbe im Querschnitt, also eine simple einwärts gerichtete Ecke. Ein Baum würde sie derart auffüllen, dass die neue Kontur eine Kurve ist, die an beiden Schenkeln des einspringenden Winkels tangential anliegt. In der Finite-Elemente-Methode muss man anstelle der Kurve kurze Geradenstücke nehmen. Also setzt Mattheck ein passendes Dreieck in die Kerbe. Dadurch entstehen zwei neue, stumpfere Kerben, von denen er eine, und zwar die an der stärker belasteten Seite, durch ein weiteres Dreieck abdeckt – und so weiter.
Dreieckskonturen, wohin man schaut
Immerhin kann man durch die äußeren Ecken der drei Zugdreiecke ganz elegant eine schöne glatte Kurve legen. Und die findet Mattheck allenthalben. "Hat man den 'klinischen Blick' für die Zugdreieckskontur erst mal verinnerlicht, so ist kaum noch ein Spaziergang möglich, ohne von aufdringlichen Zugdreiecken in selbstdarstellerischer Weise belästigt zu werden."
Dem klinischen Blick fallen dann allerdings nicht nur Bäume und eigens auf Spannungsentlastung optimierte Bauteile auf, sondern auch ein Stahllineal, die Äste eines Nadelbaums oder eine simple Kette, deren gekrümmte Form ausschließlich durch ihr Eigengewicht verursacht ist. Vollends merkwürdig wird die Sache, wenn Mattheck seine Zugdreiecke auch an die Kontur eines Bachkiesels liegt – und es passt.
Das Problem: Wenn es passt, heißt das nicht viel. Begegnet man einer Kurve, die von einer starken allmählich zu einer schwachen Krümmung übergeht, dann nimmt man halt ein Viertel einer Ellipse, stellt deren Parameter – Position, Orientierung, Länge der Halbachsen – geeignet ein und hat bereits eine gute Näherung an die Kurve. Für die Anpassung an eine Baum- oder Bachkieselkontur reicht das allemal. Statt einer Ellipse kann man auch, wenn einen die Ecken nicht zu sehr stören, Zugdreiecke verwenden. Man sollte sich nur nicht der Illusion hingeben, dahinter steckten verborgene gemeinsame Strukturbildungsprinzipien oder sonst irgendein Tiefsinn.
Allerdings: Mattheck legt solche Gedanken durch seine Bildauswahl zwar nahe; aber bevor es zu explizit wird, biegt er mit einem launigen Spruch zum nächsten Thema ab.
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