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»Die Kraft der Reue«: Ungeliebt, aber wertvoll

Der US-amerikanische Sachbuchautor Daniel H. Pink beschreibt, wie man Reue als Katalysator für positive Veränderungen nutzen kann. Eine Rezension.
Mann mit Migräne im dunklen Zimmer

Der 21-jährige Jeff Bosley wollte »cool« sein, als er sich »No Regrets« (»keine Reue«) auf den Arm tätowieren ließ. Jahre später – Bosley ist inzwischen zu einem lebenserfahrenen Erwachsenen herangereift – sucht er eine Klinik auf, um das Tattoo entfernen zu lassen. Inzwischen empfindet er nicht nur die Papyrusschrift als »lahm« und »klischeehaft«. Auch der Spruch hat sich als falsch erwiesen: Er bereut eine Menge. 

Bosley ist einer von über hundert Menschen, die der US-amerikanische Sachbuchautor Daniel H. Pink für sein Buch »Die Kraft der Reue« interviewt hat. In diesen Gesprächen sowie in Umfragen unter rund 4500 US-Amerikanern im »American Regret Project« und mehr als 16 000 Menschen aus 105 Ländern in der »World Regret Survey« ging Pink folgenden Fragen nach: Warum ist Reue wichtig? Welche Formen der Reue gibt es? Wie können wir das Gefühl für uns nutzen? Die Antworten stellt er seinen Leserinnen und Lesern in drei Buchteilen klar strukturiert, unterhaltsam und leicht verständlich vor. 

Reue ist nicht besonders beliebt. Seit den 1960ern ist das von der Französin Édith Piaf gesungene »Non, de rien de rien, non, je ne regrette rien« (»Nein, rein gar nichts, nein, ich bereue nichts«) ein Welthit. Die »Anti-Reue-Philosophie«, wie Pink die im Song propagierte Weltsicht nennt, hat ebenfalls zahlreiche Anhänger. Der Autor nennt einige von ihnen, darunter viele Autoren von Selbsthilfebüchern, prominente Musiker wie Bob Dylan oder Schauspieler wie John Travolta, der Pfarrer und Pionier des positiven Denkens Norman Vincent Peale und die Richterin Ruth Bader Ginsburg, die zweite Frau am obersten Gerichtshof in den USA. Sie alle haben sich öffentlich gegen die Reue ausgesprochen. Intuitiv mache das Sinn, schreibt Pink. Weshalb sollen wir vergangenen Schmerz wiederbeleben, wenn wir von einer rosigen Zukunft träumen könnten? Diese Weltsicht habe nur einen Fehler: Sie sei komplett falsch. 

Reue verleiht dem Leben einen Sinn

Die Empfindung der Reue sei »Kennzeichen eines gesunden, reifen Geists«, mit der man künftige Leistungen und Entscheidungen verbessern und dem Leben einen Sinn verleihen könne. Das belegt Pink anhand von Studien aus verschiedenen Disziplinen wie der Psychologie und den Sozial- und Neurowissenschaften. Dazu zählt etwa eine Studie von Nathalie Camille im renommierten Fachmagazin »Science«, die Erwachsenen ohne Reueempfinden einen »Hirnschaden« bescheinigt. 

Seine Umfrageergebnisse ordnet Pink in die bestehende Forschung zur Reue ein, die etwa Mitte des 20. Jahrhunderts unter anderem mit dem Meinungsforscher George Gallup begann. Er beschreibt seinen eigenen steinigen Weg zur Enthüllung von vier bis dahin unbekannten »Tiefenstrukturen« der Emotion. Demnach empfinden wir Reue in puncto (1) Fundament, wenn wir nicht gewissenhaft gehandelt und beispielsweise Bildung oder Gesundheit vernachlässigt haben, (2) Mut, wenn wir Risiken gemieden und unser Wachstum dadurch verhindert haben, (3) Moral, wenn wir unser »Gutsein« aufgegeben und etwa unseren Partner belogen haben, (4) Bindung, wenn wir den Kontakt zu uns wichtigen Menschen nicht aufrechterhalten haben. 

Der Autor besticht vor allem durch seine Fähigkeit, die Menschen hinter seinen wissenschaftlichen Analysen sichtbar zu machen. In manchen Schicksalen finden sich einige Leserinnen und Leser vermutlich wieder. Da ist etwa ein 32-Jähriger aus Israel, der erklärt: »Ich bereue es, so überstürzt meine Frau geheiratet zu haben.« Eine 39-jährige Frau aus Saudi-Arabien macht sich Vorwürfe, weil sie vorgab, »weniger klug und einfallsreich« zu sein, als sie es tatsächlich ist. Und eine nicht-binäre Person aus Utah bereut, zu viel Zeit damit verbracht zu haben, »der Vorstellung anderer von Normalität zu entsprechen«. 

Anhand anschaulicher Beispiele und alltagstauglicher Übungen beschreibt Pink Wege, Reue als Katalysator für positive Veränderungen zu nutzen. Den Begriff »Vergebung« meidet er, obgleich einige der beschriebenen Techniken (etwa Selbstmitgefühl oder das erneute Durchleben des Reue verursachenden Geschehens) sicherlich dazu beitragen, sich die eigene Fehlbarkeit zu verzeihen und Schuldgefühle zu überwinden. In einer Übung ruft Pink seine Leserinnen und Leser dazu auf, einen »Lebenslauf des Scheiterns« zu erstellen. Sein Buch richtet sich an alle, die den Mut dazu aufbringen. 

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