Raus aus der Komfortzone
Wenn ein renommierter Genforscher im Untertitel seines Buchs »Die Lösungsbegabung« schreibt, »Gene sind nur unser Werkzeug. Die Nuss knacken wir selbst!«, darf man gespannt sein, ob es sich um ein Sachbuch oder einen Lebensratgeber handelt. 255 Seiten später kann man ganz klar sagen: Weder noch.
Sachbuch oder Ratgeber?
Der Autor Markus Hengstschläger forscht in leitender Funktion an der Medizinischen Universität Wien, hat umfassend und teils viel beachtet in angesehenen Fachzeitschriften publiziert und auch erfolgreiche Bücher veröffentlicht, die sich um das Zusammenspiel von Genen und menschlichen Verhaltensweisen drehen. In seinem jüngsten Werk spielt er keine dieser Kompetenzen aus: Weder erhält man tiefere Einblicke, wie Gene unsere »Lösungsbegabung« beeinflussen, noch, welche anderen Faktoren außer Mut und Angst hineinwirken. Wissenschaftlich fundierte Ratschläge, die über Binsenweisheiten hinausgehen, sucht man vergebens – sowie jede Form von rotem Faden.
Im Kern plädiert Hengstschläger dafür, in allen Lebensbereichen sowohl gerichtete als auch ungerichtete Strategien zu verfolgen, um künftig gleichzeitig für gut prognostizierbare sowie unerwartete Entwicklungen gerüstet zu sein. Mit ungerichtet meint er dabei keineswegs planlos. Zur Illustration bemüht der Autor das Bild von Kindern, die in einem Turnhallenfeld stehen und Bälle fangen sollen, die von außen hineingeworfen werden: Wissen die Kinder, wo die Bälle landen werden, sollten sie sich dort positionieren – die prognostizierbare Entwicklung. Sind die Zielpunkte unbekannt, tun die Spieler gut daran, sich zu verteilen und in Bewegung zu bleiben – das deckt die unerwartete Entwicklung ab. In der Realität sei es sinnvoll, beide Muster zu kombinieren, da es immer beide Arten von Geschehnissen gibt.
Angst, Mut und Sicherheit sind Aspekte, auf die der Autor immer wieder verweist: »Es muss gelingen, basierend auf dem laufend konvergenten, gerichteten Denken, den notwendigen Mut aus Sicherheit zu entwickeln, um divergentes, ungerichtetes, freies Denken zu initiieren und auch parallel fortlaufend aktiv zu halten.« Angst verhindere, dass man sich ins Risiko stürze, könne aber auch einschränken. Überrascht? Ebenso wenig erstaunt die Botschaft, disruptive Innovationen entstünden meist nicht, weil jemand die Google-Suche beherrscht, sondern weil er tiefes Fachwissen besitze und über den Tellerrand blicke; und dass spontanen Entdeckungen häufig eine intensive Beschäftigung mit dem Fachgebiet vorausgeht – so wie bei »Amerika, Penicillin, Teflon, Röntgenstrahlung und Viagra«.
Zuerst plaudert Hengstschläger aber gut 100 Seiten lang über gesellschaftliche Entwicklungen auf sozialer Ebene wie etwa Selbstoptimierungen durch Gentechnik oder Digitalisierung. Anfangs fragt man sich, worauf der Autor hinauswill. Dabei zitiert er häufig andere Personen und nicht minder gerne sich selbst. Der spätere zwölfseitige Abstecher in die Medizin und der ähnlich lange Werbeblock für den Liberalismus dienen wohl eher der Vermarktung eigener Anschauungen als dem eigentlichen Thema des Buchs.
Sicherlich gibt es genügend Unternehmen, politische Herausforderungen und auch Situationen im Privatleben, in denen die »Lösungsbegabung« nicht oder nicht konsequent genutzt wird. Als Weckruf hat Hengstschlägers jüngstes Werk daher durchaus Berechtigung. Was er schreibt, hat Hand und Fuß. Aber um das Konzept der Lösungsbegabung und deren Sinnhaftigkeit vorzutragen, hätte ein 15-seitiger Essay genügt. Wer Zeit sparen möchte, liest einfach Seite 169. Dort hat der Autor in fünf Sätzen die Botschaft seines Werks zusammengefasst.
Am Ende ist »Die Lösungsbegabung« wohl ein gut begründeter, wenngleich langatmiger Appell an Wirtschaft und Politik, innovationsfreundlichere, flexiblere Strukturen zu schaffen und schon im Kindesalter den Fokus auf Begabungsförderung zu legen anstatt einheitliches Mittelmaß zu produzieren. Zudem ist das Buch ein Aufruf an die Leserschaft, mutiger die (eigene wie allgemeine) Zukunft zu gestalten und sich zugleich Zeit für Muße zu nehmen: »Tagträumerische Pausen, und wenn man dabei auch manchmal nur aus dem Fenster auf den Himmel schaut, könnten die Quelle für kreative Ideen sein.« Wahrscheinlich gibt es für solche Tipps eine Zielgruppe. Nennenswert schlauer dürften die meisten Leser nach der Lektüre jedoch nicht sein.
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