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Gewaltlos in eine bessere Welt?

Eine Philosophin widmet sich in ihrem Buch klug und eloquent vielen Fragen der Gewaltlosigkeit. Reale Dilemmata löst das allerdings nicht.

Die Philosophin Judith Butler lehrt an der University of California, Berkeley und gilt seit ihrem Buch »Das Unbehagen der Geschlechter« von 1990 als eine der wichtigsten Stimmen der Gender Studies. In diesem Band erörtert sie, was Gewaltlosigkeit genau ist, wie man sie ethisch begründen und im Kampf für Minderheitenrechte einsetzen kann.

Die vier Hauptkapitel des Buchs sind überarbeitete Vorträge und Essays aus den Jahren 2016 bis 2019. Neuere Bezüge zur »MeToo«-Debatte oder zur »Black lives matter«-Bewegung fehlen daher. Auch die Coronakrise taucht mit keinem Wort auf.

Butler beginnt mit einer Kritik des Individualismus, der für sie auf einer Fiktion gründet: der vermeintlichen Autonomie des Einzelnen. Denn jedes Individuum werde erst durch gemeinschaftliche Fürsorge und Sozialisierung zu dem, was es ist. Aus der tief greifenden gegenseitigen Abhängigkeit oder Interdependenz leitet die Philosophin einen Begriff »imaginärer Gleichheit« ab, der sich aus der universellen Betrauerbarkeit aller Menschen definiert.

Wie viel ist ein Leben wert?

Jedoch versucht Butler weder den Begriff der Gleichheit noch den der Betrauerbarkeit näher zu spezifizieren. Gleichheit in Bezug worauf? Betrauerbarkeit für wen? Dass etwa Flüchtende im Mittelmeer umkommen und dies seitens der EU billigend in Kauf genommen wird, zeugt laut der Autorin davon, dass man das Leben der Opfer als wertlos und entbehrlich betrachte. Sie erkennt sowohl bei rassistischer Polizeigewalt in den USA als auch bei Femiziden in Lateinamerika, im Unterdrückungsapparat autoritärer Regime ebenso wie bei der EU-Grenzpolitik einen gemeinsamen Nenner: die Ablehnung gleicher Betrauerbarkeit jedes Lebens.

Doch, so könnte man fragen, was ist mit den tausenden Toten, die der Straßenverkehr, der Alkohol oder die Luftverschmutzung fordern? Sind sie ebenso das Resultat einer »Entmenschlichung« von Verkehrs- und Suchtopfern? Schon das zeigt, wie brüchig Butlers Ansatz ist. Dass man selbst Menschenleben gegenüber anderen Aspekten abwägt, abwägen muss, bedeutet nicht zwangsläufig, sie für wertlos zu erklären.

Die Philosophin verweist darauf, dass wir die Leiden anderer oft rechtfertigen, indem wir in ein »Selbst schuld«-Denken verfallen. Wer in einem Schlauchboot aufs Meer hinausfährt, dürfe sich eben nicht wundern. Solche Ausflüchte sind fraglos unethisch.

Strukturelle Gewalt

Mit Hilfe von Schriften wie Sigmund Freuds »Das Unbehagen in der Kultur«, Michel Foucaults »In Verteidigung der Gesellschaft« oder Walter Benjamins »Zur Kritik der Gewalt« hinterfragt Butler die Grundlagen unseres Gewalt tolerierenden Denkens. Dabei betont sie, dass Gewalt nicht immer physisch offen zu Tage tritt. Es gibt sie auch in struktureller Form, als staatlich legitimiertes Unrecht, Diskriminierung sowie sprachliche oder emotionale Nötigung. Umgekehrt ist die so genannte Gewaltlosigkeit nicht frei von Zwang und Aggression. Beide bilden also viel weniger scharfe Gegensätze, als man meint.

Sobald Butler ihre Überlegungen allerdings auf konkrete gesellschaftliche Probleme anwendet, wird es nebulös: Gewaltlosigkeit, heißt es da, sei »der Wunsch nach dem Lebenswunsch des anderen (…), eine andere Art zu sagen: Du bist betrauerbar, dein Verlust ist nicht hinnehmbar, ich will, dass du lebst.«

Europas Dilemma lässt sich nicht wegphilosophieren

Wiederholt erklärt die Philosophin die Abschottung reicher westlicher Länder gegen Migranten mit Rassismus und Paranoia. Sie sei getragen von der »phantasmagorischen Angst«, unbeschränkte Gastfreundschaft zerstöre die eigene Gesellschaft. Doch so bitter es von moralischer Warte auch ist: Genau das wäre wohl tatsächlich der Fall. Würde die EU Jahr für Jahr so viele Menschen aus dem Mittleren Osten und aus Afrika aufnehmen wie 2015/16, der Sozialstaat würde zusammenbrechen. Das Dilemma, in dem Europa steckt, lässt sich nicht wegphilosophieren.

Butler behandelt zahlreiche Fragen der Gewaltlosigkeit, nur nicht deren effektive Macht. Wie viel gesellschaftsverändernde Kraft sie tatsächlich besitzt und ob sie Unrecht und strukturelle Gewalt überwinden kann, beantwortet ihr Buch nicht. Das lässt sich auch kaum theoretisch, sondern nur empirisch klären. Indem man darauf blickt, was gewaltloser Widerstand bewirkt.

Womöglich muss man sich dabei eingestehen, dass vielen Menschen gar kein anderes Mittel zur Verfügung steht. Wer nicht über Geheimdienste, Schlagstöcke und Tränengas verfügt, dem bleiben nur ziviler Ungehorsam und Petitionen. Zumal es paradox wäre, Gewalt mit Gewalt zu begegnen, so wie es einst RAF-Terroristen taten, die zu Mördern wurden, um vermeintlichen Mördern das Handwerk zu legen.

Was lehrt uns dieses Buch? Man kann (und soll) politische Theorie um der Theorie willen betreiben. Doch der Glaube, so ließen sich die real existierenden Widersprüche und Dilemmata auflösen, ist eine Illusion. Oder bissiger formuliert: Eine solche moralisch saubere Lösung gehört zur intellektuellen Selbsttäuschung derer, die mit Freud und Foucault die Welt verbessern wollen. So theoretisiert Judith Butler letztlich klug und eloquent an der Realität vorbei.

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