Die Pest 1347–1353
Die Pest, die Europa zwischen 1347 und 1353 in mehreren Wellen überrollte, war eines der einschneidendsten Ereignisse der europäischen Geschichte. Nicht nur wegen der hohen Mortalitätsrate – neueren Schätzungen zufolge raffte die Seuche damals rund ein Drittel der Bevölkerung Europas hinweg –, sondern auch wegen ihrer weit reichenden Auswirkungen auf die Gesellschaft.
Ein Déjà-vu-Erlebnis?
Volker Reinhardt, Professor für Geschichte an der Universität Fribourg und ausgewiesener Kenner der Renaissance-Zeit, schildert in seinem anschaulich geschriebenen Buch Ursachen, Verlauf und Folgen der aus Asien stammenden und von genuesischen Handelsschiffen nach Europa eingeschleppten Pandemie.
Der Autor richtet neue Fragen an alte Quellen. Er hinterfragt, wie die Menschen des 14. Jahrhunderts mit der Krise umgingen und darauf reagierten. Erleben wir im Hinblick auf Corona ein Déjà-vu? Reinhardt gibt sich skeptisch und warnt trotz scheinbarer Parallelen zur Gegenwart vor historischen Vergleichen: Zwar gebe es durchaus ähnliche Verhaltensmuster im Umgang mit der Pandemie, doch seien die Grundvoraussetzungen damals und heute grundsätzlich verschieden. Anders als im Fall von Sars-CoV-2 wussten die Menschen im Mittelalter nicht, wo das Übel lauerte und durch was es verursacht wurde – Alexandre Yersin identifizierte das Pestbakterium erst Ende des 19. Jahrhunderts.
Mit großer erzählerischer Kraft und analytischem Sachverstand beschreibt Reinhardt die zersetzende Macht der Pandemie und erläutert, wie diese in alle Lebensbereiche hineinwirkte und das soziale Gefüge der spätmittelalterlichen Gesellschaft erschütterte. So berichten zeitgenössische Quellen von einem Schwinden des Zusammenhalts: Die Menschen gingen auf soziale Distanz; selbst durch die Familien ging ein Riss, weil sich deren Mitglieder voneinander abschotteten. Zudem wurden Infizierte ausgegrenzt, in Quarantäne gesteckt und in Pesthäusern isoliert.
Dass harte Lockdown-Maßnahmen auch damals wirksam waren, zeigt der Autor am Beispiel von Mailand, wo man die soziale Mobilität drastisch einschränkte, Läden schloss, das öffentliche Leben herunterfuhr und rigide Regeln für Zu- und Abwanderung erließ.
Folgenschwer waren die psychologischen Auswirkungen des Pestalltags, die sich dem Autor zufolge in einer hochemotionalen Mischung aus verzweifelter Frömmigkeit und religiösem Fanatismus niederschlugen. So hätten die Angst vor dem Unbekannten und schiere Hilflosigkeit zu großer Verunsicherung geführt, mit der Folge, dass das Vertrauen der Menschen in weltliche und kirchliche Autoritäten schwand, die in der Stunde der Bewährung die Sehnsucht nach Schutz und Orientierung nicht erfüllen konnten.
Dieser Vertrauensverlust habe dazu geführt, dass die Menschen ihr Schicksal selbst in die Hand nahmen und ihr Heil in neuen Formen der Frömmigkeit suchten. Etwa durch Wallfahrten oder Geißlerumzüge, bei denen sich die fanatisierten Büßer die Körper blutig schlugen, um Gott milde zu stimmen. Diese Form der »persönlichen Frömmigkeit«, so Reinhardt, zeigte sich auch in einer verstärkten Zuwendung zu Pestheiligen, wie dem heiligen Sebastian und dem heiligen Rochus, und im Aufkommen der Marienverehrung mit dem Motiv der Mutter Gottes als Schutzmantelmadonna.
Der Autor verweist zudem auf eine andere allzu menschliche Eigenart in Krisenzeiten: die Schuld für Unheil auf andere abzuwälzen. Die Ohnmacht gegenüber dem Massensterben schürte eine Atmosphäre des Misstrauens, die wiederum den Nährboden für Denunziation und abstruse Schuldzuweisungen bereitete und zu schlimmsten Judenpogromen führte.
Trotz aller stilistischen Brillanz vermag Reinhardt der gut erschlossenen Quellenlage nichts wirklich Neues zu entlocken. Allerdings gelingt es ihm, durch originelle Fragestellungen und gelegentliche Querverweise auf die Gegenwart ein überaus interessantes Psychogramm menschlicher Verhaltensweisen in Bedrohungssituationen zu entwerfen.
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