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»Die Moskau-Connection«: Günstiges Gas und teure Abhängigkeit

Wie konnte Deutschland in eine energiepolitische Abhängigkeit von Russland geraten? Eine Spurensuche – für Leser mit Vorkenntnissen.
Sprudelndes Gas erzeugt einen Schaumfleck im Meer.

Erst als Russland am 24. Februar 2022 in die Ukraine einmarschierte und sich der Westen mit antirussischen Sanktionspaketen kollektiv hinter das angegriffene Land stellte, wurde vielen Menschen bewusst, wie sehr Deutschland von russischen Gas- und Öllieferungen abhängig war. Dies war das Resultat der russlandfreundlichen Wirtschafts- und Energiepolitik der vergangenen 20 Jahre. Zwar brachte sie günstige Preise für die Verbraucher mit sich, doch sie machte das Land angesichts der gegen Russland verhängten Sanktionen erpressbar. Die Folge waren fieberhafte Bemühungen der aktuellen Bundesregierung unter Olaf Scholz (SPD) und Wirtschaftsminister Robert Habeck (Bündnis 90/Die Grünen), alternative Lieferanten fossiler Energieträger in der arabischen Welt zu finden und die Lieferung von Flüssiggas vor allem aus den USA zu ermöglichen. Zwar gelang dies, doch die Preise explodierten.

Die Journalisten Reinhard Bingener und Markus Wehner gehen in ihrem Buch der Frage nach, wie es zu dieser Abhängigkeit kam und wodurch die im Nachhinein naiv erscheinende Sicht auf Putins Politik begünstigt wurde. These der Autoren ist, dass daran ein Netzwerk entscheidenden Anteil hatte, das sich um den ehemaligen deutschen Bundeskanzler Gerhard Schröder (SPD) gruppierte.

Zwar war seine Freundschaft zum russischen Staatschef Wladimir Putin bekannt. Doch es hinterließ bereits 2005 bei vielen politischen Beobachtern einen faden Beigeschmack, als Schröder kurz nach seiner Niederlage bei der Bundestagswahl für die russische Energiewirtschaft tätig wurde. Er engagierte sich seither für Firmen wie Nord Stream, Gazprom und Rosneft.

Wie Bingener und Wehner zeigen, baute Schröder bereits früh in seiner politischen Karriere ein Netzwerk mit sozialdemokratischen Politikern, Managern und Unternehmern auf, das sowohl ihm als auch den Beteiligten wirtschaftlichen und politischen Einfluss ermöglichte. Zu den Mitgliedern dieses Netzes zählen die Autoren unter anderem Sigmar Gabriel, Peter Hartz oder Frank-Walter Steinmeier. Schröders informeller Einfluss in der SPD war auch nach seinem Ausscheiden aus der aktiven Politik groß.

Auf Schröder folgte 2005 Angela Merkel (CDU) als Bundeskanzlerin, die bis 2021 vier Koalitionsregierungen sowohl mit der SPD (2005–2009 und 2013–2021) als auch mit der FDP (2009–2013) führte. Steinmeier war darin von 2005 bis 2009 sowie von 2013 bis 2017 Außenminister, Gabriel war von 2005 bis 2009 zunächst Umwelt- und von 2013 bis 2017 Wirtschaftsminister. Den Autoren zufolge habe Gabriel als Wirtschaftsminister die Bundesrepublik »mit durchgedrücktem Gaspedal« in die Abhängigkeit geführt. Steinmeier musste im April 2022 Fehler in seiner Außenpolitik gegenüber Russland einräumen.

Auch wenn Bingener und Wehner sich auf die einflussreichen Schröder-Beziehungen fokussieren, zeigen sie zudem die Verantwortung anderer Parteien. Zwar pflegte Merkel einen kritischeren und keineswegs so kumpelhaften Umgang mit Putin wie ihr Amtsvorgänger. Doch auch sie habe das Ziel einer strategischen Partnerschaft mit Russland verfolgt und an den russischen Energieimporten über die umstrittenen Ostseepipelines Nord Stream 1 und 2 festgehalten. Ebenso hätten Wirtschaftspolitiker der Unionsparteien ein Interesse an guten Russlandbeziehungen und Kontakte zum Netzwerk um Schröder gehabt.

Um US-amerikanische Sanktionen gegen den auch innerhalb der EU kritisch gesehenen Bau von Nord Stream 2 zu umgehen, errichtete das von Manuela Schwesig (SPD) geführte Bundesland Mecklenburg-Vorpommern 2021 die umstrittene »Stiftung Klima- und Umweltschutz MV«. Die Autoren weisen darauf hin, dass es bei der diesbezüglichen Abstimmung im Schweriner Landtag keine Gegenstimmen von SPD, CDU, der Linken und der AfD gegeben habe.

Bingener und Wehner liefern einen ersten Ansatz zur journalistischen Aufarbeitung der Geschehnisse. Nicht überzeugen kann ihre Argumentation, dass die sozialdemokratische Entspannungspolitik im Kalten Krieg die SPD anfällig für eine vermeintlich zu große Russlandfreundlichkeit gemacht haben könnte. Doch sie geben zu Recht zu bedenken, dass die Ambitionen zur Aufarbeitung der Geschehnisse bei allen politischen Parteien gering sein dürften. Dies gilt nicht nur für SPD und CDU, sondern auch für Bündnis 90/Die Grünen und FDP, die aktuell die Koalitionspartner der SPD sind. Auch Linke und AfD bewerten sie als ideologisch zu sehr mit dem Kreml verstrickt.

Das Buch eignet sich für zeithistorisch und politisch interessierte Leser. Vorkenntnisse sollten vorhanden sein.

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