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Real gewordene Dystopie

In Reisereportagen beschreibt ein Journalist die klimatischen Veränderungen der nördlichen Polregion – und die daraus folgende Ausbeutung des Gebiets.

Wer dieses Buch aufschlägt, das den Wandel in der Arktis behandelt, erwartet zunächst vielleicht nicht viel Neues. Man braucht ja nur den Fernseher einzuschalten, um fast täglich von schmelzenden Gletschern und Ökosystemen im Umbruch zu erfahren – und den ikonischen Eisbären auf der schrumpfenden Eisscholle zu sehen. Wenn der Klappentext zudem noch die Dringlichkeit des Themas unterstreicht, indem er aus der Zeitschrift »Rolling Stone« zitiert – nicht gerade ein Fachblatt für Klimawissenschaften –, mag das viele skeptisch stimmen.

Wie die Lektüre aber schon bald zeigt, hat es das Werk in sich. In fünf Reportagen führt der Journalist Marzio G. Mian seine Leser an verschiedene Schauplätze im hohen Norden, wo Veränderungen stattfinden, die an Dramatik kaum zu überbieten sind. Die Kapitel seines Buchs hat er in groben Zügen nach geografischen Regionen eingeteilt.

Irreparable Umweltschäden

In den Texten berichtet er mehrfach aus Grönland, der amerikanischen beziehungsweise russischen Einflusssphäre in der Arktis sowie aus Island und Spitzbergen. Die Kapitel sind dabei sowohl hinsichtlich der geografischen Regionen als auch bezüglich der Themen nicht immer klar abgegrenzt, was dem Werk aber in keiner Weise schadet – denn die ökologischen und gesellschaftlichen Umbrüche, die Verteilungskämpfe um Bodenschätze, Lebensraum, Meeresressourcen, Schifffahrtsrouten und strategischen Einfluss machen vor Breiten- und Längengraden nicht Halt.

Inhaltlich ist das Werk nicht zwingend überraschend; manches davon mag beispielsweise aus TV-Dokumentationen bekannt sein. Die kompakte Zusammenstellung hinterlässt aber einen bleibenden Eindruck – und tiefe Betroffenheit. Mian beschreibt, wie chinesische Investoren bereits heute Gebiete auf Grönland abstecken, um dort seltene Erden abzubauen; wie Kreuzfahrtschiffe Spitzbergen regelrecht umzingeln; und wie Teile der russischen Tundra irreparable, bergbaubedingte Umweltschäden erleiden. Er legt dar, dass auf der mittlerweile eisfrei befahrbaren Nordwestpassage, der »blauen Seidenstraße«, ungeregelte Bedingungen herrschen wie zur Zeit des Goldrauschs in Alaska und der erste Unfall nur eine Frage der Zeit ist. Zudem erfahren die Leser, dass in isländischen Fjorden Transithäfen für riesige Containerschiffe geplant werden. Dies alles schildert Mian sehr eindringlich, packend und stilistisch gelungen, wobei seine Texte mitunter an die Reisereportagen Roger Willemsens erinnern.

Die Texte behandeln primär, wie sich der Wandel in der Arktis gesellschaftlich auswirkt, sei es in politischer oder persönlicher Hinsicht. Das ist sehr eindringlich, da Mian nah an den handelnden Personen berichtet. Geht es etwa um die Förderung von Bodenschätzen auf Grönland, spricht der Autor sowohl mit Bewohnern, die durch Minenbetrieb direkt bedroht sind, als auch mit dem Betriebsleiter einer Mine sowie dem Industrieminister. Dabei werden die Ziele der Regierung, die mittels Ressourcenausbeutung möglichst große Eigenständigkeit erreichen will, ebenso deutlich wie die Einstellung einflussreicher Personen, etwa des Leiters der Vergabebehörde für Ölbohrrechte: »Drill, baby, drill!«. Und es zeichnen sich deren Motive ab: Nordöstlich vor Grönland lagern große Mengen Öl – hunderttausende Barrel auf jeden Inuk.

Die Öl- und Gasressourcen des hohen Nordens locken nicht erst seit gestern, sondern bereits seit Jahrzehnten, wie aus dem Buch hervorgeht. So ist der italienische Mineralölkonzern ENI schon lange ein bevorzugter Partner des norwegischen Konzerns Statoil. Gemeinsam beuten sie heikle Förderorte in der Barentssee aus, etwa auf der Ölbohrplattform »Goliath«. Was das für Risiken birgt, versucht der Autor zu verdeutlichen: »Wenn dort oben etwas schiefgehen sollte, wird uns die Deepwater-Horizon-Katastrophe von 2010 im Golf von Mexiko im Vergleich wie ein lästiger Zwischenfall vorkommen.«

So groß die Gefahren für die Umwelt auch sein mögen: Die Staaten bringen sich in Stellung, um ihre Ansprüche geltend zu machen. Im Jahr 2007 erreichte ein russisches U-Boot den Nordpol und rammte eine russische Flagge aus Titan in den Meeresboden. Norwegen beharrt im Gegenzug darauf, das strategisch günstig gelegene Spitzbergen gehöre zu seiner Kontinentalplatte. Die Entwicklung ist beängstigend – Russland beispielsweise hat in nur vier Jahren ein beachtliches »Arktis-Kommando« auf die Beine gestellt mit 4 Sturmbrigaden, 14 Luftwaffenstützpunkten, 16 Hochseehäfen, 40 Eisbrechern. Man beneidet den von Mian interviewten Bürgermeister des norwegischen Orts Kirkenes nicht, der in nur wenigen Kilometern Entfernung buchstäblich strahlende Nachbarn hat: den auch atomar hochgerüsteten Stützpunkt der Nordmeerflotte, die Stadt Murmansk.

Eine Bedrohung ganz anderer Art ist der zunehmende Tourismus, mit dem sich das empfindliche Ökosystem Arktis konfrontiert sieht. Beim Lesen dieser Passagen fühlt man sich ständig hin- und hergerissen zwischen dem Gefühl, auch gern einmal in diese faszinierenden Landschaften reisen zu wollen, und dem Bewusstsein, dass man damit den Untergang der dortigen Ökosysteme noch beschleunigen würde. Interviewpartner des Autors nennen dies »Last Chance Tourism« und machen klar: »Die Leute bezahlen dafür, einmal Amundsen zu spielen, die Reisegruppe wird zum Expeditionsteam, man sucht die Einsamkeit, aber in der Gruppe. Man erlebt die Wildnis oder begeistert sich für das Eis, als stünde man vor einem Gorillakäfig im Zoo. […] Ironischerweise wurde ausgerechnet das symbolkräftigste Opfer der menschlichen Umweltverschmutzung [die Arktis] zu einer Marke, die für Reinheit, Frische und unberührte Natur steht.«

Die ganze Absurdität des Arktis-Tourismus tritt in dem Marketingtext eines kalifornischen Anbieters von Kreuzfahrten zu Tage: »Genießen Sie den Komfort eines angenehm temperierten Schwimmbads auf einem unserer vierzehn Decks, und entdecken Sie, mit einem Glas Chardonnay in der Hand, das abgelegenste Ökosystem unserer Erde.« Wenn man schon auf die Ausbeutung der Ressourcen oder die Geopolitik wenig Einfluss hat, sollte man wenigstens das unterlassen, wie aus diesem gelungen übersetzten Werk hervorgeht.

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