Direkt zum Inhalt

Buchkritik zu »Die neue Medizin der Emotionen «

Schon am frühen Morgen, in der ersten Minute des Aufwachens, kann man absolut alles falsch machen und sich den gesamten Rest des Tages verderben: Das Klingeln des Weckers, eine Erfindung der Neuzeit, reißt uns ohne Vorwarnung aus dem Tiefschlaf. Seit Millionen von Jahren sind wir daran angepasst, in der Morgendämmerung langsam und gemächlich wach zu werden. Plötzlichen Lärm im Stockfinstern verbindet unsere Biologie unbewusst mit grauenhaften Gefahrensituationen. Was aber soll aus einem Tag werden, der schon am frühen Morgen mit dem nackten Erschrecken beginnt?

Solche und viele ähnliche Sachverhalte schildert David Servan-Schreiber in seinem Buch und weist auch auf Möglichkeiten der Abhilfe hin. So gibt es gegen die abrupte Beendigung des REM-Schlafs längst Dämmerungslampen mit Zeitschaltuhren, die den Schläfer sanft und natürlich aufwachen lassen.

Don't panic! Wenn Arthur Dent, die Hauptfigur in Douglas Adams' Kultbuch "Per Anhalter durch die Galaxis", gar nicht mehr weiter weiß, holt er sich Rat im "Hitchhiker's Guide". Ein ähnlicher Allroundhelfer ist das vorliegende Buch. David Servan-Schreiber, ein Sohn des bekannten Publizisten Jean-Jacques Servan-Schreiber, ist zwar selbst Psychiater, bemüht sich in dem Buch aber nach Kräften, den Alleinherrschaftsanspruch der medikamentenbasierten Psychiatrie zu untergraben: Anhand alternativer Behandlungsverfahren und wissenschaftlicher Untersuchungen zeigt er, dass sich selbst hinter zunächst abstrus oder schamanistisch erscheinenden Behandlungsformen sinnvolle Verfahren verstecken können.

Der Lebenslauf des Verfassers ist bemerkenswert. Nach dem Medizinstudium in Paris und Québec betrieb er rund 20 Jahre lang an der Universität in Pittsburgh Grundlagenforschung in kognitiver Neurowissenschaft, die auch vor den gestrengen Gutachtern der höchst renommierten Zeitschrift "Science" Bestand hatte. Als Mitglied der amerikanischen Sektion des Verbands "Ärzte ohne Grenzen" unternahm er 1996 eine Reise nach Indien und besuchte unter anderem Dharamsala, den Exilsitz des Dalai Lama, wo er die traditionelle tibetanische Medizin kennen lernte. Wenig später beendete er überraschenderweise seine wissenschaftliche Karriere und wurde 1997 Chefpsychiater des Shadyside Hospital (der Klinik der Universität Pittsburgh). Rasch entwickelte er ein Unbehagen gegen die übliche medikamentöse Behandlung der hier untergebrachten Patienten und begann alternative Behandlungstechniken auf ihre Wirksamkeit hin zu prüfen. Schon im Jahr darauf wurde er zum Mitbegründer des "Center for Complementary Medicine", einem Zentrum für die Untersuchung von komplementären Heilmethoden. Im Jahre 1999 reiste er ins Kosovo; ein Teil seiner Fallbeispiele stellt Menschen vor, die durch die Kriegsereignisse dort traumatisiert wurden.

Anheimelnde Seelenklempner-Lektüre, in der die Wichtigkeit der Emotionen betont wird, gibt es massenhaft; aber im Gegensatz zum Standard-Psycho-Selbsthilfe-Buch gibt Servan-Schreiber für jeden einzelnen der vorgeschlagenen Behandlungsansätze eine Erklärung der Wirkung auf der Grundlage neuropsychiatrischer Erkenntnisse. Dabei fasst er den aktuellen Stand des Wissens für Fachleute informativ und für den betroffenen Patienten gut verständlich zusammen. Die meisten unter den fast 300 zitierten Literaturquellen stammen aus hochrangigen Fachzeitschriften und sind höchstens sechs Jahre alt.

Das Buch spannt einen weiten Bogen, von grundlegenden Überlegungen über die "schwierige Hochzeit" zwischen unserem stammesgeschichtlich uralten Reptilienhirn und dem neuzeitlich-zivilisierten Neocortex bis hin zu ausführlichen Erklärungen, warum unser bewusstes Denken unsere Gefühle im Grunde kaum kontrollieren, sondern allenfalls trickreich beeinflussen kann. Im weiteren Verlauf werden dann unterschiedliche Behandlungstechniken vorgestellt, darunter die "Kohärenz", eine Abwandlung des Autogenen Trainings, die den Herzschlag zu beruhigen und damit die eigenen Ängste zu reduzieren hilft. Eine andere, mir persönlich bis dahin weitgehend unbekannte Technik, das EMDR (Eye movement desensitization and reprocessing), erlaubt es ähnlich wie der Traum, sich an zurückliegende belastende Ereignisse zu erinnern und diese zu verarbeiten. Servan-Schreiber überprüft sowohl fernöstliche Ansätze wie Qi oder Akupunktur auf ihre Nützlichkeit als auch die Auswirkungen von Sport und gesunder Ernährung auf den seelischen Zustand. Breiten Raum gibt er der antidepressiven Wirkung von sozialen Beziehungen, Liebe und Zärtlichkeit.

Was gibt es zu kritisieren? Der Titel klingt mehr nach einem missglückten Liebesroman und trifft nicht den wissenschaftlichen Anspruch; fast hätte er mich davon abgehalten, den Text überhaupt zu lesen. Ein populärwissenschaftliches Werk hätte man auch mit mehr als den mageren zehn Abbildungen schmackhaft machen sollen.

Hilfreich wäre besonders für den Laien auch eine Aufteilung der unterschiedlichen Arten von Ängsten und Depressionen gewesen, die hier etwas vermengt dargestellt werden. So hilft die im Buch unter anderem vorgestellte Lichttherapie im Wesentlichen nur gegen die SAD (seasonal affective disorders), wohl kaum aber gegen eine schwere Depression mit psychotischen Anteilen. Leider sucht man auch ein Stichwortverzeichnis vergebens; immerhin gibt es eine Liste mit hilfreichen Adressen.

Was mir an dem Band besonders gut gefällt, ist die riesige Anzahl von Fallbeispielen. Servan-Schreiber nennt keine Behandlungsmethode, ohne eine mehr oder weniger authentisch klingende Patientengeschichte darzustellen. Das lockert die forscherische Detailarbeit immer wieder auf, sodass man das Buch auch als Freitzeitlektüre lesen kann, ohne in dem langweiligen Staub wissenschaftlicher Metaanalysen über die Effektivitätsprüfungen der Ansätze zu versinken.
  • Quellen
Spektrum der Wissenschaft 2/2005

Schreiben Sie uns!

Beitrag schreiben

Wir freuen uns über Ihre Beiträge zu unseren Artikeln und wünschen Ihnen viel Spaß beim Gedankenaustausch auf unseren Seiten! Bitte beachten Sie dabei unsere Kommentarrichtlinien.

Tragen Sie bitte nur Relevantes zum Thema des jeweiligen Artikels vor, und wahren Sie einen respektvollen Umgangston. Die Redaktion behält sich vor, Zuschriften nicht zu veröffentlichen und Ihre Kommentare redaktionell zu bearbeiten. Die Zuschriften können daher leider nicht immer sofort veröffentlicht werden. Bitte geben Sie einen Namen an und Ihren Zuschriften stets eine aussagekräftige Überschrift, damit bei Onlinediskussionen andere Teilnehmende sich leichter auf Ihre Beiträge beziehen können. Ausgewählte Zuschriften können ohne separate Rücksprache auch in unseren gedruckten und digitalen Magazinen veröffentlicht werden. Vielen Dank!

Partnerinhalte

Bitte erlauben Sie Javascript, um die volle Funktionalität von Spektrum.de zu erhalten.