Keine Zeit?
Der italienische theoretische Physiker Carlo Rovelli, Professor an der Universität von Marseille, dürfte einem breiten Publikum erstmals mit seinem 2015 auf Deutsch erschienenen Titel »Sieben kurze Lektionen über Physik« aufgefallen sein. Er gilt als einer der Begründer der Schleifenquantengravitation – eines Ansatzes, der die allgemeine Relativitätstheorie und die Quantenphysik miteinander zu vereinen sucht. Dabei hat Rovelli anscheinend mit der Zeit ein Problem, denn sogar bei Wikipedia lässt sich nachlesen, dass einer seiner Hypothesen nach die Zeit »ein lediglich emergenter thermodynamischer Prozess sei«.
Vielleicht ist es daher nicht schlecht, dass Rovelli über dieses »lediglich« ein ganzes Buch geschrieben hat, um auch einem allgemeinen Publikum zu erklären, was genau er damit meint. Er geht dabei ziemlich gründlich vor und fängt von vorne an, bei den griechischen Philosophen und ihrem Verständnis von Zeit. Das unterschied sich nämlich teilweise stark von unserem alltagstauglichen Zeitverständnis, das immer noch stark von Isaac Newtons Gedanken zum Thema beherrscht wird. Newton spannte einen dreidimensionalen Raum auf, in dem sich seine Mechanik abspielt und in dem die Zeit einfach da ist und unabhängig vom Raum existiert, abgekürzt durch den Buchstaben t. Bei Newton folgt ein t auf das andere, alles hübsch geordnet und absolut.
Dass das nicht der Weisheit letzter Schluss sein kann, wissen wir spätestens, seit unsere Satelliten mit ihren Atomuhren die Erdanziehung ausgleichen müssen, damit uns unser irdisches Navigationsgerät zielgerichtet von A nach B bringt. Wie Rovelli formuliert, läuft »im Gebirge die Zeit schneller als im Flachland« ab. Vor allem Albert Einstein hat mit seinen Relativitätstheorien Newtons absolute Zeit obsolet gemacht.
Kein Vorwärts, kein Zurück
Wenn man schon einmal dabei ist und die ganze Angelegenheit ein wenig weiterdenkt, kann man sich auch gleich von der ganzen Zeit verabschieden. Denn eigentlich kennen die meisten Grundgleichungen der Physik, die unser Universum beschreiben, die Zeit nicht. Ihnen ist es »egal«, ob ein Prozess vorwärts oder rückwärts abläuft. Beides ist möglich, weshalb es dann auch wenig Sinn macht, überhaupt von »vorwärts« oder »rückwärts« zu sprechen. Und wenn die Zeit schon keine Richtung mehr hat, was ist sie dann überhaupt noch?
Diese Richtung in Form des bekannten vorwärtsgerichteten Zeitpfeils kommt erst ins Spiel, wenn man die Thermodynamik und die physikalische Größe der Entropie bemüht. Eine Tasse kann mehr oder weniger spontan vom Tisch fallen und zerspringen, aber sie wird sich nicht wieder spontan zusammensetzen und sich zurück auf den Tisch stellen. Vorwärts ist eben nicht gleich rückwärts. Der thermodynamische Zeitpfeil sorgt damit also nicht unerheblich für unser Verständnis von einer unaufhaltsam vorwärtsfließenden Zeit. Aber da ist Rovelli noch lange nicht fertig. Denn in den Gleichungen des Universums zufolge, die wirklich alles beschreiben und an das Wesen unserer Wirklichkeit rühren, kommt die Zeit gar nicht mehr vor. Die Zeit ist damit kein Grundparameter mehr für das Universum und somit gewissermaßen weg.
Nachdem Rovelli die Zeit also losgeworden ist, beschäftigt er sich im zweiten Teil seines Buchs damit, woher sie dann trotzdem kommt, mit den »Quellen« der Zeit, und warum wir alle trotzdem Zeit »haben«. Auch hier spielen die Entropie und die Thermodynamik eine Rolle. Leider muss die Rezensentin zugeben, bei diesen Ausführungen manchmal den Faden verloren zu haben.
Was bleibt von der Lektüre, sind faszinierende Gedanken zur Zeit und einige Antwortversuche auf eine der großen, grundlegenden Fragen. Lobenswert sind zudem die wunderbar gelungene Aufmachung des Buchst – und dass Rovelli konzise bleibt und den Band nicht zu einem Wälzer aufgeblasen hat. Auch wenn viele von uns »keine Zeit haben«, können wir dieses nichtexistente Etwas nutzen, um darüber zu lesen.
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