Krank oder gesund?
Die medizinische Versorgung in Deutschland ist wegen der verpflichtenden Krankenversicherung und – noch – guten Infrastruktur deutlich besser als in den meisten anderen westlichen Ländern. Doch die Entwicklung weist nicht unbedingt in eine positive Richtung, wie Michelle Hildebrandt in ihrem neuen Buch »Die Patientenfänger« schreibt.
Die Kritik der Autorin richtet sich auf den zunehmend auf Profit ausgelegten Medizinbetrieb. Das betrifft nicht nur die gewinnorientierte Pharmaindustrie, sondern auch Ärzte und Vertreterinnen der Alternativmedizin, die häufig ebenfalls wirtschaftliche Interessen verfolgen.
Zunächst widmet sich Hildebrandt den Pharmariesen. Die Entwicklung von Medikamenten für seltene Krankheiten lohnt sich für diese kaum. Folglich konzentrieren sich einige darauf, nur kleine Veränderungen an Mitteln vorzunehmen, um den Gewinn zu erhöhen. Zudem lässt sich der Absatz von Arzneien vervielfachen, wenn man die Grenzwerte für »normal« verändert – so werden aus gesunden Menschen kranke. Ein Beispiel sind Blutdruckwerte, die immer niedriger angesetzt werden und so künstlich mehr Patienten mit Hypertonie erzeugen. Außerdem erklärt man für lange Zeit als reine Befindlichkeitsstörungen angesehene oder durch das Alter verursachte Beschwerden zunehmend zu behandlungsbedüftigen Krankheiten.
Das führt zu Problemen in den Praxen, wie etwa die Individuellen Gesundheitsleistungen (IGeL) zeigen. Die ärztlichen Leistungen können sinnvoll sein, werden von den gesetzlichen Krankenkassen aber nicht bezahlt. Sich dafür oder dagegen zu entscheiden, überfordert Patienten oft.
Mit steigenden Kosten kämpfen auch Krankenhäuser, die bis zu den 1980er Jahren zumeist von Kommunen oder kirchlichen Trägern betrieben und dann vermehrt privatisiert wurden. Bis 1985 war es den Betreibern gesetzlich verboten, Gewinne zu erzielen. Die Bundespflegeverordnung und das Krankenhausfinanzierungsgesetz hatten tagesgleiche Pflegesätze festgelegt – unabhängig der tatsächlich anfallenden Behandlungskosten. Aber nun obliegt die Investitionsförderung den Ländern und Kommunen, was zu massiven Sparmaßnahmen führt.
Die Aussicht auf Gewinne lockte private Klinikbetreiber: Die Zahl privater Einrichtungen stieg von 21,7 Prozent im Jahr 2000 auf 32,8 Prozent in 2018. Um gewinnorientiert zu arbeiten, spart man in erster Linie beim Pflegepersonal. Während in Norwegen eine Pflegekraft durchschnittlich 5,4 Patienten versorgt, sind es in Deutschland 13. Das »Outsourcing« des Reinigungspersonals und der Essensversorgung tat ein Übriges.
In dem Kapitel »Wer heilt, hat nicht immer recht« beschreibt die Autorin die umstrittene Intimchirurgie oder das Fettabsaugen. Auch alternative Methoden hinterfragt sie: Heilpraktiker, Homöopathen und andere nicht durch ein Humanmedizin-Studium qualifizierte Menschen arbeiten oft nicht wissenschaftlich fundiert. Man solle sich vor Augen halten, dass die Heilpraktikerprüfung eher eine Unbedenklichkeits- als eine Fachprüfung sei.
Obwohl die Autorin viel kritisiert, beschreibt sie die einzelnen Aspekte stets sachlich. Ihre Argumentation basiert auf zahlreichen Hinweisen aus wissenschaftlicher Literatur. Das Buch ist zudem anschaulich und flüssig geschrieben. Fazit: lesenswert.
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